1. KAPITEL
Zweihundertzehn Kilometer nördlich des Polarkreises drängte sich in der Hauptlodge des an der Torne gelegenen Eishotels Siopis aufgeregt schwatzendes Personal. Das Ferienresort war das ganze Jahr über für Gäste geöffnet, die sich am Wechsel der Jahreszeiten erfreuen wollten. Aber erst im November, wenn der Fluss so dick zugefroren war, dass sich die Handwerker und Künstler an die Arbeit machen konnten, entfaltete sich der eigentliche Zauber.
Lena Weir, die seit vier Jahren hier arbeitete, war stets aufs Neue beeindruckt von dem Talent, dem Erfindungsreichtum und der harten Arbeit, die es erforderte, um allein aus Eis- und Schneeblöcken das sogenannte Iglu zu erschaffen. Und bei Frühlingsbeginn beobachtete sie wehmütig, wie das magische Gebilde dahinschmolz und in Wasser verwandelt in den Fluss zurückkehrte.
Heute jedoch schien der Frühling Welten entfernt. Es war fast zwei Uhr mittags und fühlte sich an wie Mitternacht. Die Sonne hatte sich zuletzt vor drei Tagen kurz blicken lassen. Da hatte Lena zusammen mit dem Rest des Teams draußen gestanden und ihr Gesicht für volle sechsundzwanzig Minuten in den matten Strahlen der Sonne gebadet, die sich innerhalb der nächsten drei Wochen nur noch als ein schwacher Schimmer am Horizont zeigen würde.
In drei Tagen wurden die ersten Gäste der Wintersaison erwartet. Wer abenteuerlustig und betucht genug war, würde eine Nacht im Iglu verbringen. Gerade fand die letzte Belegschaftsversammlung vor der offiziellen Eröffnung statt. Von außen sah das riesige Iglu jedes Jahr gleich aus, während es im Innern stets anders gestaltet war. Da war die einzige Konstante das glitzernde Eis, durch das aufwändig gebündelte Lichtstrahlen fielen.
Während das Team dabei war, sich mit mehreren Kleiderschichten gegen die eisige Kälte draußen zu wappnen, klingelte an der Rezeption das Telefon. Sven, der am nächsten stand, meldete sich in perfektem Englisch: „Eishotel Siopis, was kann ich für Sie tun?“
Wenn Lena nicht zu ihm geschaut hätte, wäre ihr die aufflackernde Panik entgangen, die über sein Gesicht huschte, während er lauschte. Schließlich nickte er energisch und beendete das Gespräch mit den Worten: „Gut. Ich werde das Hauswirtschaftsteam sofort informieren.“
„Was ist?“, fragte Lena. Im Eishotel gab es fast nie Beschwerden. Hatte in einem der Chalets die Kaffeemaschine den Geist aufgegeben? Oder war ein Bett nicht richtig gemacht worden?
„Das war Magda. Die Halbjahresinspektion wird vorgezogen.“
Lena hob ungerührt eine Augenbraue. Kein Problem. Die Inspektion drei Tage vor Weihnachten anzusetzen war in ihren Augen sowieso Unsinn gewesen. Also sprach nichts dagegen, sie vorzuziehen.
Doch das war noch nicht alles. „Mr. Siopis übernimmt sie persönlich.“
Jetzt wurde Lenas Kopf ganz leer. Halt suchend streckte sie eine Hand nach dem Tresen aus und zwang sich, langsam und tief durchzuatmen. „Wann?“, brachte sie nach einer Weile mühsam heraus.
Normalerweise kam Konstantinos Siopis jedes Jahr im Sommer. Deshalb hatte sie erst in sieben Monaten wieder mit ihm gerechnet.
„Er wird in vier Stunden hier sein.“
Lena hätte sich am liebsten fallen gelassen, zu einem Ball zusammengerollt und hin und her gewiegt wie ein kleines Kind. Aber ihr blieb nur, den Empfangstresen noch fester zu umklammern und möglichst ruhig sagen: „Informierst du das Hauswirtschaftsteam, dass sie ein Chalet für ihn herrichten?“
Sven nickte.
„Gut. Ich lasse ihn mit dem Auto vom Flughafen abholen. Weißt du, wie lange er bleibt?“
„Nein.“
Sie konnte es Sven nicht verdenken, dass er nicht gefragt hatte. Magda, Konstantinos’ persönliche Assistentin, war fast so einschüchternd wie ihr Chef selbst, Eigentümer einer internationalen Luxushotelkette und Investor in zahlreichen Spitzentechnologien. Der auch Lenas Chef war und der oberste Boss aller hier.
Hinzu kam, dass er der Vater ihres ungeborenen Kindes war, von dessen Existenz außer ihr allerdings niemand wusste.
Konstantinos schaute hinaus in die nachtschwarze Dunkelheit. Es sollte ja Menschen geben, die endlose Nächte und unerbittliche Kälte aufregend fanden, aber er gehörte ganz gewiss