In diesem einleitenden Kapitel werden die aktuelle Definition einer intellektuellen Behinderung, ihre Einteilung nach Ursachen und Schweregraden, die Unterscheidung von intellektuellen und adaptiven Kompetenzen sowie die Ergebnisse von Studien zur Prävalenz von intellektueller Behinderung im Kindes- und Jugendalter vorgestellt. An dieser Stelle sei auch auf die Praxisleitlinie Intelligenzminderung verwiesen, die unter Federführung derDeutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (2021) veröffentlicht wurde. Sie enthält ebenfalls Informationen zu Definition und Epidemiologie der intellektuellen Behinderung.
In der internationalen medizinischen und psychologischen Fachliteratur wird zur Definition einer intellektuellen Behinderung die Formulierung des „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition“ (DSM-5;American Psychiatric Association [APA], 2013) zugrunde gelegt. Sie stimmt weitgehend mit der aktuellen Fassung der Definition durch die„American Association on Intellectual and Developmental Disabilities“ (AAIDD, 2001), die international führende Fachgesellschaft, überein. Beide Referenzquellen definieren eine intellektuelle Behinderung alsbedeutsame, im Kindesalter beginnende und dauerhafte Einschränkungen der intellektuellen Funktionen, die mit bedeutsamen Einschränkungen der adaptiven Kompetenzen einhergehen, die sich in konzeptionellen, sozialen und praktischen Fähigkeiten zur Bewältigung der sozialen Anforderungen im Alltag zeigen.
Die intellektuelle Behinderung wird dabei in ein biopsychosoziales Verständnis von Behinderung nach der „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF;World Health Organization [WHO], 2001; deutsche Ausgabe:WHO, 2005) eingeordnet. Danach wird eine Behinderung sowohl von den funktionalen Kompetenzen eines Individuums gemäß seiner biologisch-medizinischen Voraussetzungen als auch den sozialen Bedingungen bestimmt, unter denen es in seiner Umwelt aufwächst. In diesem Verständnis von Behinderung werden verschiedene Perspektiven integriert (Schalock et al., 2018):
die biomedizinische Perspektive, die genetische und physiologische Faktoren als mögliche Ursachen der intellektuellen Behinderung betont,
|18|die psychologisch-pädagogische Perspektive, die Lernbeeinträchtigungen, intellektuelle und andere psychologische Merkmale von Kindern und Jugendlichen mit intellektueller Behinderung betont,
die soziokulturelle Perspektive, die die sozialen Zuschreibungsprozesse, die gesellschaftlichen Haltungen und sozialen Erfahrungen betont, die Menschen mit intellektueller Behinderung machen,
die rechtliche Perspektive, die den Anspruch von Menschen mit intellektueller Behinderung auf Gleichbehandlung gemäß den allgemeinen Menschenrechten betont.
Die Terminologie hat sich im historischen Verlauf verändert und unterscheidet sich etwas zwischen den kinder- und jugendpsychiatrischen Klassifikationssystemen. Früher wurden für diesen Personenkreis in den meisten englischsprachigen Ländern die Bezeichnungen „mental retardation“, bzw. „mental deficiency“ verwendet, in England „severe or profound learning disabilities“, im deutschen Sprachraum die Bezeichnung „geistige Behinderung“. In der „International Classification of Diseases“ (ICD-10;WHO/Dilling et al., 2015) wurde der Begriff der „Intelligenzstörung“ verwendet und als ein Zustand von verzögerter oder unvollständiger Entwicklung der geistigen Fähigkeiten definiert; besonders beeinträchtigt seien Fertigkeiten, die sich in der Entwicklungsperiode manifestieren und die zum Intelligenzniveau beitragen, wie Kognition, Sprache, motorische und soziale Fähigkeiten. Für die 11. Revision, die seit 01.01.2022 von der WHO in Kraft gesetzt wurde, befindet sich eine deutsche Version in Vorbereitung (WHO/Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, 2022); in dieser Entwurfsfassung wird der Begriff der „Störung der Intelligenzentwicklung“ vorgeschlagen. In der deutschen Version des DSM-5 (APA, 2015) wird der englische Begriff der „intellectual disabilities“ als intellektuelle Beeinträchtigung (intellektuelle Entwicklungsstörung) übersetzt.
In diesem Buch wird der Begriff „intellektuelle Behinderung“ dem Begriff der „intellektuellen Beeinträchtigung“ vorgezogen, um den Personenkreis eindeutig abzugrenzen von Kindern und Jugendlichen mit leichteren intellektuellen Beeinträchtigungen, die im deutschen Sprachraum früher als „Lernbehinderung“ bezeichnet wurden, und deutlich zu machen, dass bei diesem Personenkreis ein dauerhafter und umfassender Unterstützungsbedarf besteht.
Um die Diagnose einer intellektuellen Behinderung nach den Kriterien des DSM-5 fachgerecht zu stellen, müssen mehrere Bedingungen beachtet werden:
Die Diagnosestellung einer intellektuellen Behinderung orientiert sich nicht ausschließlich am Intelligenzniveau, sondern stellt die Unterstützungsbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen zur Förderung ihrer Lebensqualität in den Vordergrund.
Es müssen bedeutsame Einschränkungen sowohl im Bereich der intellektuellen Fähigkeiten als auch im Bereich der adaptiven Kompetenzen vorliegen.
|19|Das Ziel der psychologischen Untersuchung eines Kindes oder einer bzw. eines Jugendlichen ist nicht primär die Bestimmung eines Testwertes, sondern die Beschreibung eines Profils von Kompetenzen (Einschränkungen und individuellen Stärken).
Für die Untersuchung der Kompetenzen müssen valide Beurteilungsverfahren verwendet werden, die die kulturelle und linguistische Diversität der Population berücksichtigen.
Die Einschränkungen müssen im Kontext der Anforderungen betrachtet werden, die in einer Gesellschaft typisch für das Alter und die Lebenswelt des betreffenden Kindes sind.
Zur Diskussion
In der deutschsprachigen Sonderpädagogik stößt die Verwendung der Definition nach DSM-5 oder AAIDD auf vielfältige Widerstände. In neueren Grundlagenwerken wird von „Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung“ (z. B.Schuppener et al., 2021) gesprochen. Die Autorinnen und Autoren weisen damit darauf hin, dass es sich bei der Diagnose um eine soziale Zuschreibung handelt, die mit einem Risiko von Ausgrenzung und Diskriminierung verbunden ist. Es werde damit eine Teilgruppe beschrieben, die sich in ihren Fähigkeiten und ihrem Verhalten von der Mehrheit unterscheidet, deren Selbstverständnis aber deutlich von dieser professionellen Zuschreibung abweichen könne. Das spiegelt sich auch in der Forderung von Gruppen der „Self-Advocacy-Bewegung“ (z. B.Mensch zuerst – Netzwerk People First Deutschland e. V., n. d.) wider, statt des Begriffs der „geistigen Behinderung“ den Begriff „Menschen mit Lernschwierigkeiten“ zu verwenden.
Ein Recht aller Menschen auf soziale Teilhabe („human rights approach“) und Selbstbestimmung („self-determination“) ist ebenso unstrittig wie der Respekt vor den individuellen Sichtweisen der Fähigkeiten, Interessen, Bedürfnissen und Rechten von Betroffenen. Die Verwendung des Begriffs „Lernschwierigkeiten“ und die Postulation einer ausschließlich sozialen Konstruktion von intellektueller Behinderung als Ausdruck gesellschaftlicher ...