Warum ist 1 + 1 = 2?
Eine mögliche Antwort auf diese Frage lautet: «Es ist einfach so!» – eine Abwandlung von «Weil ich es sage!» und eine Antwort, die Kinder seit Generationen frustriert. «Weil ich es sage» bedeutet, es gibt eine Autoritätsperson, die die Regeln aufstellt, ohne sie rechtfertigen zu müssen; sie kann sich beliebige Regeln ausdenken, und alle anderen sind Lakaien, die diese Regeln zu befolgen haben.
Es ist vollkommen in Ordnung, wenn man von dieser Vorstellung frustriert ist. Es ist sogar ein starker mathematischer Impuls, alle Regeln brechen oder Szenarien finden zu wollen, in denen diese Regeln nicht gelten – nur um zu zeigen, dass die vermeintliche Autoritätsperson nicht so viel Autorität hat, wie sie glaubt.
Mathe kann wie eine Welt von Regeln erscheinen, die man einfach befolgen muss; sie erscheint dann rigide und langweilig. Im Unterschied dazu wird meine Liebe zur Mathematik von meiner Vorliebe für das Brechen von Regeln – oder zumindest das Anrennen gegen sie – befeuert. Es macht mich ein bisschen verlegen, weil ich damit wie eine Jugendliche klinge, die nie erwachsen geworden ist. Meine Liebe zur Mathematik wird auch davon befeuert, dass ich bei allem nach dem «Warum» fragen will – wie ein Kleinkind! Aber beide Impulse sind von großer Bedeutung für die Erweiterung unseres Wissens, insbesondere des mathematischen. Sie waren wichtig für die Entstehung der Mathematik und sind wichtig für deren Weiterentwicklung. Vor allem letzteres ist unser Thema in diesem Kapitel.
Ich möchte betonen, dass ich im Alltagsleben ein gesetzestreuer Mensch bin, denn ich verstehe Regeln, die den Zweck haben, eine Gemeinschaft zusammenzuhalten und für die Sicherheit der Menschen sorgen. Ich glaube an diese Regeln. Ich habe nichts dagegen, Regeln zu befolgen, die einen Sinn haben. Dagegen glaube ich nicht an willkürliche Regeln, die keine Berechtigung zu haben scheinen oder an deren Berechtigung ich nicht glaube: Regeln wie «Du musst jeden Tag dein Bett machen» (was wirklich nicht nach meinem Geschmack ist) oder «Bring Schokolade niemals in der Mikrowelle zum Schmelzen» (sicher kann man sie dadurch leicht ruinieren, aber wenn man sie alle 15 Sekunden umrührt, kann nichts passieren, habe ich festgestellt).
Ich möchte also untersuchen, woher sie kommen, die Regeln der Mathematik und die Mathematik selbst. Ich werde beschreiben, wie Mathe aus kleinen Keimen entsteht, auf organische Weise wächst und schließlich große Höhen erreicht. Die Keime sind scheinbar naive Fragen, die jeder von uns stellen könnte und die kleine Kinder oft stellen, statt sich einfach damit zufrieden zu geben, dass es so ist, wie ihnen gesagt wird: Fragen wie die, warum 1 + 1 gleich 2 ist. Wie alle Keime müssen auch diese auf die richtige Weise genährt werden, um zu wachsen. Sie benötigen einen fruchtbaren Boden, Platz für ihre Wurzeln und schließlich Nahrung. Leider werden unsere scheinbar naiven Fragen allzu oft nicht auf diese Weise genährt, sondern als «dumm» abgetan und beiseitegeschoben. Aber Fragen, die die Fundamente der Mathematik betreffen, unterscheiden sich von scheinbar naiven Fragen vielleicht nur darin, dass erstere gehegt und gepflegt werden. Das heißt, es gibt keinen Unterschied. Die Keime sind die gleichen.
Menschen, die Mathe nicht mögen, werden oft von der autoritären Feststellung abgeschreckt, dass etwas die richtige Antwort sei, ohne dass dies begründet würde. «Eins plus einsist einfach zwei.» Aber wenn wir uns fragen, warum ein solcher Satz wahr ist, können wir uns dadurch eine solide Grundlage für die Mathematik schaffen, so dass wir klare und schlüssige Aussagen treffen können. Manche empfinden diese Klarheit und Schlüssigkeit als entspannend und befreiend, während andere sie als einschränkend und autoritär empfinden. Doch wenn wir einer Frage wie «Warum ist 1 + 1 = 2?» nachgehen, können wir den Gedanken prüfen, dass es in der Mathematik keine eindeutig richtigen Antworten gibt, sondern dass in verschiedenen Kontexten verschiedene Antworten richtig sind. Dies wird uns danach fragen lassen, woher die Zahlen und die Regeln der Arithmetik überhaupt kommen und wie wir diese Regeln in anderen mathematischen Kontexten verwenden können, etwa wenn wir über geometrische Formen nachdenken. Das berührt viele wichtige Themen in der Entwicklung der Mathematik, beginnend mit der Herstellung von Zusammenhängen, dem Ernstnehmen der Abstraktion und der Erweiterung unseres Denkens, um nach und nach mehr von der Welt um uns herum zu erfassen.
Aber fragen wir uns zunächst, statt darüber nachzudenken, warum eins plus eins gleich zwei ist, ob das überhaupt immer zutrifft.
Grenzen in Frage stellen
Kinder scheinen von Natur aus immer auf der Suche nach Gegenbeispielen zu sein. Ein Gegenbeispiel ist ein Beispiel, das beweist, dass eine Behauptung nicht wahr ist. Zu behaupten, etwas sei immer wahr, ist wie das Ziehen einer Grenze um etwas herum, und Beispiele vorzubringen, die die Behauptung widerlegen sollen, ist wie ein In-Frage-Stellen dieser Grenze. Das ist ein Drang, der wichtig ist für die Mathematik.
Sie können versuchen, einem Kind die Antwort auf das «eins plus eins» beizubringen, indem Sie etwa fragen: «Wenn ich dir einen Muffin gebe und noch einen Muffin, wie viele Muffins hast du dann?» Das Kind könnte aber vergnügt erklären: «Keinen, weil ich sie schon gegessen habe!» Oder gar: «Keinen, weil ich keine Muffins mag.» Ich bin immer entzückt, wenn ich im Internet kecke Antworten von Kindern entdecke, die deren Eltern gepostet haben. Eine meiner absoluten Lieblingsantworten war die Antwort auf die Frage: «Joe hat sieben Äpfel und macht aus fünf davon einen Apfelkuchen – wie viele Äpfel hat er übrig?» Das Kind meiner Freundin hatte nämlich geschrieben: «HAT ER DEN KUCHEN SCHON GEGESSEN?» Ich freue mich über Antworten, die wohl richtig, aber definitiv nicht die Antworten sind, die als richtig gelten sollen. In der Denkweise der Kinder kommt ein wichtiger, aber zu wenig gewürdigter Aspekt des mathematischen Instinkts zum Ausdruck, nämlich das Bedürfnis, sich gegen ungerechtfertigte Autoritäten aufzulehnen.
Es kann sein, dass Kinder sich gegen Autoritäten auflehnen, um die Grenzen von Situationen auszuloten oder um ein Gefühl ihrer selbst in einer Welt zu erlangen, in der kaum etwas nach ihrem Willen geschieht. Ich erinnere mich noch genau an meine Kindheit und daran, wie frustrierend es war, immer tun zu müssen, was die Erwachsenen von mir forderten. Wenn ich merkte, dass ein Erwachsener mir eine Suggestivfrage stellte, machte es mir Spaß, ein bisschen das Thema zu wechseln und zum Beispiel zu sagen: «Ich mag keine Muffins.»
Das mag ein vorwitziges und obstruktives Bedürfnis sein, aber ich denke, es ist auch ein mathematisches Bedürfnis. Ja, vielleicht ist die Mathematik vorwitzig und obstruktiv, aber man kann es auch so ausdrücken, dass sie Grenzen ausloten will – genauso, wie Kinder es tun. Wir wollen uns im Klaren sein über die Grenzen, in denen etwas wahr ist, damit wir Gewissheit haben, dass wir uns in einem «sicheren» Bereich befinden; wir wollen aber auch außerhalb dieses Bereichs forschen können, wenn wir uns wagemutig fühlen oder neugierig sind. Es ist wie bei einem Kleinkind, das davonrennt, um zu sehen, wann ein Erwachsener ihm nachläuft. Das Nachdenken über Szenarien, in denen eins plus einsnicht zwei ist, ist ein Beispiel dafür.
Wenn ich sage: «Ich bin nicht nicht müde», dann bedeutet das, dass ich müde bin, und manche Kinder finden es lustig zu sagen: «Ich bin nicht nicht nicht nicht nicht nicht nicht nicht nicht nicht nicht müde!» Um dann in hysterisches Lachen auszubrechen, weil sie wissen, dass keiner mitgezählt hat, wie oft sie «nicht» gesagt haben. Worauf es hier ankommt, ist, dass ein «nicht» plus ein «nicht» dasselbe ist wie null «nicht». Das erinnert mich an das Korrigieren der Lösungen einer furchtbar schwierigen Prüfungsaufgabe, die eine lange und mühsame Berechnung mit vielen Gliedern enthielt, bei der die Studierenden leicht ein negatives Vorzeichen übersehen konnten. Dieses Korrigieren war besonders unangenehm, weil die...