PROLOG
Stellen wir uns die Welt als eine Bühne vor, auf der wir das Leben wie ein Drama inszenieren. Als christlicher Theologe sehe ich in der biblischen Erzählung so etwas wie das Drehbuch, das uns unser Schöpfer in die Hand gegeben hat. Es geht also ganz konkret darum, wie wir unser Leben gestalten – persönlich, in unserem sozialen Umfeld, aber auch als Gesellschaft. Bühne – Drehbuch – Inszenierung; das sind Metaphern, die uns durch dieses Buch begleiten werden.
Als Prolog führt uns eine kleine Geschichte mitten ins Thema des Dramas hinein:
Es war einmal ein kleiner Bub.
Ein pfiffiger Kerl. Und quicklebendig. Sein Vater saß in der gleichen Stube und wollte Zeitung lesen. Unmöglich. Zu viel Lärm. Da kam dem Strapazierten urplötzlich ein rettender Gedanke: Papi greift aus dem nahen Gestell ein altes Buch. Schlägt es auf und reißt ein Blatt mit der Abbildung einer Weltkarte heraus. Er zerstückelt es und ruft dem Buben zu: »Hej, Timi, ich habe ein interessantes Spiel für dich! Setz die Fetzen dieser Weltkarte richtig zusammen, da hast du Klebstreifen. Wenn’s dir gelingt, bekommst du einen Euro.«
Und schon sitzt Timi in einer Ecke und arbeitet still. Der Vater freut sich über die Ruhe. Sie wird lange dauern bei der schwierigen Aufgabe.
So denkt er.
Weit gefehlt! In wenigen Minuten hält der kleine Pfiffikus dem erstaunten Vater die fehlerlose Arbeit unter die Nase. Kopfschüttelnd fragt dieser immer wieder: »Wie konntest du nur … und in dieser kurzen Zeit … und eine Karte der Welt, die du gar nicht kennst?«
»Ganz einfach, schau da!« Und Timi zeigt dem Vater die andere Seite des Blattes, wo groß ein Menschenantlitz abgebildet ist. »Ich habe einfach das Menschenbild zusammengesetzt und dann stimmte es auf der anderen Seite auch mit der Welt!«
Der Vater schweigt. Lange. Dann sagt er nachdenklich immer wieder vor sich hin: Ja wirklich, so ist’s: Stimmt’s mit dem Menschen, dann stimmt’s auch mit der Welt.1
Johannes Niederers Geschichte bringt eine große Frage auf den Tisch: Was muss geschehen, damit es mit dieser Welt »wieder stimmt«? Und er lässt die Frage auch gleich durch den kleinen Timi beantworten: Es muss mit dem Menschen wieder stimmen, wenn es mit der Welt wieder stimmen soll. Wenn seine These stimmt – und ich gehe in diesem Buch davon aus –, dann müssen wir beim Menschen ansetzen. Das heißt aber auch, dass wir bei uns persönlich beginnen müssen.
Mit einer Liedstrophe von Kurt Rommel formuliere ich das am Anfang dieses Buches als Gebet:
Lass uns in deinem Namen, Herr, die nötigen Schritte tun.
Gib uns den Mut, voll Glauben, Herr, mit dir zu Menschen zu werden.
Ich bin in der schönen Lebensphase, in der ich als Großvater meine Enkel aufwachsen sehen darf. Vom ersten Tag an sind sie ganz Menschen und gleichzeitig beginnt die Reise der Menschwerdung. Sie lernen an der »Erfahrung mit den Dingen« (Jean-Jacques Rousseau),2 im Raum der Familie und in der Begegnung mit Fremden. Sie gehen zur Schule, erlernen Berufe und studieren. Hoffentlich werden sie Menschen auf dieser Reise.
Das ist für mich aber auch die Lebensphase, in der ich auf meine Lebensreise zurückschaue. Was ist aus mir geworden? Bin ich ein Mensch geworden? Da geht es nicht nur darum, was ich weiß, was ich kann, was ich geleistet habe oder was ich besitze, sondern vielmehr darum, wer ich geworden bin. Das ist das Thema dieses Buches. Es geht um Persönlichkeit, um Identität und um Charakter.
Ein erster Überblick
InTeil 1 befassen wir uns mit der Bühne. Ich werde die Ausgangslage skizzieren. Die These, dass mit dieser Welt etwas nicht stimmt, soll entfaltet und begründet werden. Das ist ein eher düsteres Bild.
Ich bin mir eines gewissen Risikos sehr wohl bewusst. Es gibt eine fromme Untugend, die man immer wieder von christlichen Kanzeln hört, die darin besteht, zuerst diese Welt übertrieben schlecht zu reden, um dann den christlichen Glauben als einzige Lösung aller Probleme anzubieten. Oder etwas pointierter gesag