Eine Kollegin, die regelmäßig Unternehmen in schwierigen Phasen berät, erzählte mir neulich von einem interessanten Erlebnis. Der Vorstand einer größeren Regionalbank hatte sie damit beauftragt, die Stimmung und den „Stresspegel“ in der Belegschaft zu messen. Als sie damit fertig war, zweifelte sie zunächst an ihren Resultaten, die sich aber bei einer Nachprüfung bestätigten: Sage und schreibe siebzig Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren im gelben oder roten Bereich, was ihre Zufriedenheit und ihre seelische Stabilität anging. Sie hatten bestimmte Stressthemen, fühlten sich dauerhaft schlecht, hatten innerlich schon gekündigt oder standen bereits mit mindestens einem Fuß im Burn-out. Nur jeder Dritte fand seine Arbeitssituation mehr oder weniger in Ordnung. Normal ist das umgekehrte Zahlenverhältnis: Siebzig Prozent der Leute kommen mit den Belastungen und Konflikten, die Arbeit nun mal mit sich bringt, in der Regel gut klar, und dreißig Prozent haben mehr Stress, als dauerhaft vertretbar ist. Dreißig Prozent – das ist immer noch sehr viel, und dieses Buch wird zeigen, wie sehr das den Einzelnen, den Unternehmen und der Gesellschaft zu schaffen macht. Aber sieben von zehn Leuten?! Es war ein Wunder, dass in der Bank überhaupt noch irgendetwas funktionierte, und das Unternehmen steuerte zielstrebig auf ein Desaster zu. Die schlechte Stimmung hatte sich aufgetürmt, weil die Bank aus der Fusion dreier kleinerer Institute entstanden war, sodass alle Mitarbeitenden ihr altes „Wir“ verloren hatten und sich nun auf neue Abläufe, neue Kolleginnen und Kollegen und neue Arbeitsorte einstellen mussten. Diese anstrengende Transformation war offenbar nur unzureichend begleitet worden.
Alarmiert konfrontierte meine Kollegin den Vorstand mit ihren Ergebnissen und legte Ideen vor, wie man die eingetretene Situation verbessern könne. Und der Vorstand handelte schnell und konsequent: Er kündigte den Vertrag mit dem Beratungsunternehmen. Offenbar konnten die Führungskräfte nicht ertragen, so massiv den Spiegel für ihr Versagen vorgehalten zu bekommen. Lieber steuerten sie weiter in Richtung eines kollektiven Burn-outs.
Die Reaktion des Bankvorstands ist leider durchaus repräsentativ für die deutsche Arbeitswelt. Nicht-wahrhaben-Wollen, Leugnen und Verdrängen sind noch immer typische Reaktionsmuster in Unternehmen. Der Gedanke, dass die vielen psychisch bedingten Krankschreibungen mehr erzählen als nur tragische Privatgeschichten, ist vielen Führungskräften und Personalverantwortlichen weiterhin fremd. Natürlich tragen viele Angestellte auch privat ein Päckchen mit sich herum – darauf müssen Unternehmen sich einstellen. Was sie noch viel zu selten tun. Aber der Druck, unter dem so viele Arbeitnehmer stehen, hat auch etwas mit der Arbeit selbst zu tun. Das ist noch immer nicht überall angekommen. Das Thema „Mentale Gesundheit am Arbeitsplatz“ ist lange Zeit beinahe völlig ignoriert worden, und bis heute wird es massiv unterschätzt und bagatellisiert. Aber auch wo es erkannt wird, fehlen oft das Wissen und die Ressourcen, um sinnvoll gegenzusteuern. Unter dieser Ignoranz leiden sehr viele Menschen. Dabei wissen wir längst, dass selbst dann dringender Handlungsbedarf bestünde, wenn einem das persönliche Schicksal der Betroffenen gleichgültig wäre. Denn jeder Euro, der in mentale Gesundheit investiert wird, zahlt sich fünf- bis achtfach aus. Ganz nüchtern gesprochen: Die volks- und betriebswirtschaftlichen Kosten der vielen psychisch bedingten Krankschreibungen sind astronomisch. Sie sind in den letzten Jahren geradezu explodiert – und ein Ende dieses alarmierenden Trends ist nicht absehbar.
Wir leben in einer Zeit der mentalen Ausbeutung. Dazu ein paar Fakten zum