Kapitel 2
Das Ortsschild von St. Elwine huschte vorüber. Charlotte war endlich am Ziel ihrer langen Reise. Die kleine Stadt hieß sie willkommen. Alles schien noch genauso auszusehen, wie in ihrer Erinnerung und doch war es anders.
Während der Busfahrt war Charlys innere Anspannung stetig gewachsen. Zwischen ihren Schulterblättern ballten sich die Muskeln und Sehnen zu einem Knoten. Dafür lag wenigstens die Episode mit Tyler O’Brian hinter ihr. Noch immer war ihr der Abend peinlich, doch zum Glück würde sie diesen Mann nie wiedersehen. Zum Teufel – sie wusste nicht, warum sie ihm ihren richtigen Namen nicht hatte sagen wollen, war im Nachhinein jedoch froh darüber.
Das Gespräch mit Faye, als Charly – noch immer leicht beschwipst – die Suite betreten hatte, ging ihr durch den Kopf.
»Wo warst du nur so lange? Ich habe mir bereits Sorgen gemacht.«
Charlotte blieb halbwegs bei der Wahrheit.
Am nächsten Tag hatte Faye in ihrem Fach eine Mitteilung gefunden, dass Mr. O’Brian keine Betreuerin mehr für den Rest seines Aufenthaltes benötige, weil er die Stadt in Kürze verlassen werde.
Diese Tatsache hätte Charly zutiefst beunruhigt, wenn da nicht neben der Notiz noch Tickets für das Benefizkonzert am Abend gesteckt hätten. Faye war ganz aus dem Häuschen und Charly tat ihr den Gefallen, sie zu begleiten. Obwohl sie sich anfangs sträubte, musste sich Charlotte widerwillig eingestehen, dass ihr das Konzert gefiel. Weil sie keine Rockmusik mochte, hatte sie mehr auf andere Dinge geachtet. Sie fand beispielsweise die Wahl der Gaststars gut und auch das Konzept der Show. Alles schien gut durchdacht und die Liveatmosphäre tat ihr Übriges, um die Zuhörer zu wahren Begeisterungsstürmen hinzureißen.
Und dann kam er.
Seine Band begann langsam und eindringlich. Sie spielten mit Gitarren und einer Mundharmonika. Tyler zog das Publikum in seinen Bann. Selbst Charly hatte sich dem nicht entziehen können. Als er leise zu singen begann, schien seine Stimme sie zu liebkosen.
Liebe hätte sie vielleicht retten können. Ich sah schon lange die Schatten, schon, als sie noch lächeln konnte. Sie war nicht stark genug für diese Welt. Doch Liebe hätte sie vielleicht retten können.
Bei seinen Worten lief ihr ein Schauder über den Rücken, Schwermut erfasste sie. Nur mit Mühe gelang es ihr, die Gefühle in den Griff zu bekommen, und das allein deshalb, weil sie sich auf das Zupfen der Gitarrensaiten und die eindringlichen, gospelartigen Soul-Stimmen der Chorsängerinnen im Hintergrund konzentrierte. Dann war ein gefühlvolles Schallala gefolgt, das sich wie der Hauch einer Berührung über sie gelegt hatte.
Mit dem SongDesire war es rockig geworden auf der Bühne. Für Charly hatte es sich angefühlt, als würde er nur für sie singen. Was natürlich völliger Blödsinn war, denn Faye und die anderen meinten genau dasselbe.
Der Bus stoppte. Charly erhob sich und stieg aus.
Mühelos fand sie das Haus ihres Großvaters. An der Pforte hing noch immer das SchildDr. Johann Svenson – Zahnarzt und den Sprechzeiten mit dem HinweisAuf Wunsch auch nach Vereinbarung. Inzwischen war es leicht verwittert.
Charlotte ging die Auffahrt entlang. Hinter dem Fenster machte sie eine Bewegung aus und blieb zögernd stehen. Die Tür wurde aufgerissen und dann stand er da und lächelte sie an.
Sie flog in seine Arme, als wäre sie wieder ein kleines Mädchen.
Grandpa drückte sie fest an sich, während Tränen über seine Wangen liefen. »Du bist wirklich und wahrhaftig gekommen, mein Kind. Ich kann es kaum glauben. All die langen Jahre, in denen ich mich Tag für Tag gefragt habe, wie es dir wohl geht. Lass dich anschauen, Charly!« Er hielt sie auf Armeslänge von sich, strich durch ihr Haar, fuhr mit einem Finger sachte über ihre Wange. »Du hast keine Stupsnase mehr.«
Sie lächelte. »Zum Glück. Ich bin mittlerweile sechsunddreißig. Wie würde ich wohl damit aussehen?«
»Du siehst zauberhaft aus. Viel hübscher, als ich es mir immer vorgestellt habe. Aber ich sage dir, du siehst keinen Tag älter aus als zwanzig.«
»Du bist noch immer ein Schmeichler, Grandpa.«
Eine kräftige Frau mit einer Schürze um den Bauch trat zu ihnen. Sie wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. »Jetzt lassen Sie das Kind doch nicht vor der Tür stehen, Dr. Svenson! Kommen Sie rein, meine Liebe! Hier ist es kühler. Ich habe bereits Zitronenlimonade gemacht, oder ist Ihnen Eistee lieber?« Eilig wies sie in das Innere des Hauses. »Sie möchten sich sicher frisch machen und ein wenig ausruhen. Ich habe Ihr altes Zimmer hergerichtet.« Sie wischte sich ihre Rechte an der Schürze ab. »Ach, wie unhöflich von mir. Bertha Chappell.«
»Die Bertha, die die besten Schokoladenplätzchen in ganz St. Elwine gemacht hat? Und außerdem noch in Grandpas Praxis assistierte? Die den Pat