: Josep Maria Esquirol
: Menschliches, noch Menschlicheres Eine Anthropologie der unendlichen Verletzung
: Felix Meiner Verlag
: 9783787344864
: Blaue Reihe
: 1
: CHF 15.10
:
: 20. und 21. Jahrhundert
: German
: 164
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»Menschliches, noch Menschlicheres« ist ein authentisch-philosophischer Essay, in einer Sprache geschrieben, die so verständlich und präzise wie inspirierend ist. Mit seinem neuen Essay setzt der Autor seine Beschäftigung mit der Frage nach der menschlichen Situation und Bedingtheit fort. Ausgehend von der grundlegenden Fragilität des Menschlichen entwickelt Esquirol eine philosophische Anthropologie: die »Philosophie der Nähe«. Es sind scheinbar einfache Fragen, die der katalanische Philosoph Josep Maria Esquirol aufwirft: Wie heißt du? Woher kommst du? Was ist mit dir los? Diese Fragen bringen uns, so der Autor, Schritt für Schritt der tiefsten Mitte unserer Seele näher, dorthin, wo wir entdecken, dass wir von vier wesentlichen Unendlichkeiten durchdrungen und verletzt sind: Leben, Tod, Du und Welt. Esquirol zeigt auf, wie dieser »Furche« im Menschen das wohltuendste Handeln entspringt: ein Handeln, das »Welt in der Welt erschafft« und das Leben umsorgt; ein Handeln, das uns Orientierung gibt, uns stärkt, indem es versteht, Ernst und Leichtigkeit, Tag und Nacht, Himmel und Erde, Gegenwart und Hoffnung zusammenzubringen, ohne sie zu verwirren. Der neue Band ist sein bisher konzeptuellstes, am deutlichsten systematisch angelegtes Werk. Es geht nicht um eine Definition des Menschlichen, sondern um Orientierung.

Josep María Esquirol ist Professor für Philosophie an der Universitat de Barcelona und Leiter der Forschungsgruppe »Aporia«, die sich insbesondere mit der Verbindung von Philosophie und Psychiatrie beschäftigt. Er veröffentlichte rund ein Dutzend Bücher. Die in den letzten Jahren entstandenen Werke, in prägnantem Stil verfasst und bewusst miteinander verknüpft, bringen eine Philosophie der menschlichen Existenz zum Ausdruck.

IIWIE HEISST DU? (DER NAME)


JEMANDEN BENENNEN

Nicht nur am ersten Tag, sondern auch am Tag darauf und auch an dem Tag, der dem Tag darauf folgt, zwingt uns die Blöße des menschlichen Gesichts in vielen Situationen dazu, uns vor den bestehenden Witterungsunbilden und dem Abgrund zu schützen, manchmal vielleicht hinter Brettern, die mit Seilen aneinandergebunden werden. Der Name, den wir uns geben, kommt mit der geheimnisvollen Blöße des Gesichts überein und wird gleichzeitig Mahnmal dieser abgründigen Bändigung; eine Mahnung und eine Weise, das Band erneut zu straffen, das dann und wann erschlafft.

Wie ist der Name des Menschen? Der Name einer Gattung bedeutet hier nicht viel, denn jede Person ist eine Welt für sich. Der Mensch hat keinen Gattungsnamen, der ausdrücken könnte, was er ist. »Ich weiß nicht, was ich bin; ich bin nicht, was ich weiß«, schrieb Silesius.9 Wenn von generischen Bezeichnungen wieHomo sapiens Gebrauch gemacht wird, so sollten diese in jedem Fall sekundär bleiben.

Jede Person istjemand. Die so beantwortete Frage lautetWer ist das? und nicht so sehrWas ist das?

Jemand, jemandanders, ein Anderer, noch Einer (un altre un).10

Jemand ist ein einfaches Pronomen, das wir mitPerson,Individuum,Subjekt … und sogar mit dem heideggerschenDasein gleichsetzen könnten, denn es schließt das Hier, die Faktizität, mit ein. Wenn gesagt wird: »Da ist jemand«, dann schließt sich dem gleich an: »Wo?«. Und vor allem wird sogleich gefragt »Wer?«. Daraufhin antworten wir spontan mit der scheinbaren Schlichtheit des Namens: »Jemand«. »Wer?«. »Anna«.

Es gibt keine Menschheit, die herumläuft. Es gibt keinen Gedanken, der denkt. Es gibt keine Liebe, die liebt. Es gibt keine Sprache, die spricht. Da sind Anna und Joan und sie gehen, lieben, denken und sprechen.

Wie ist also der Name des Menschen? Es lohnt sich hier die Redundanz, der Name des Menschen ist sein Name; der Eigenname; der Vorname. Es gibt keine größere Offenbarung des Menschen als die des Namens. Deshalb würde es eine extreme Gewalttat darstellen, einem Kind keinen Namen geben zu wollen oder, in die gleiche Richtung argumentierend, einer schon erwachsenen Person den Namen zu entreißen und sie auf diese Weise zu vernichten, wie dies in den nationalsozialistischen und stalinistischen Konzentrationslagern und so vielen anderen unmenschlichen Orten geschah.

Der Name ist Zeichen für etwas so Wertvolles, dass es vorsichtshalber einen geheimen geben muss. Ein geheimer, der im Extremfall als letztes Refugium dienen und uns vorVerschmähung undDemütigungen aller Art retten kann.

Die Gegebenheit, dass der Name hier zur Fährte wird, sollte uns jedoch nicht beirren. Das Entscheidende und das, wodurch wir uns angesprochen fühlen, ist keine grammatische Kategorie, sondern viel mehr die Tatsache, dass jemand, indem er ein Jemand ist, einen Namen verdient. Der Name ist also nurdie Fährte, die auf das hinweist, was von Bedeutung ist: die Tiefe des Menschlichen.

Ein Blick, der dich erkennt, ist schon ein Blick, der den Namen nennt. Der Name ist zuvor Pronomen. Und das Pronomen ist zuvor Blick. Das macht es unmöglich, die Spur bis ans Ende zu verfolgen. Wenn ich vom Eigennamen spreche, denke ich an die Handlung, jemanden beim Namen zu nennen, jemanden als jemand anzusprechen, mit dem Namen, mit einem Pronomen, einem Kosenamen, einer Geste oder einem Blick.

Obwohl es auch Eigennamen gibt, die keine Personennamen sind – beispielsweise Ortsnamen –, beziehe ich mich h