: Christoph Keller
: Blauer Sand Roman
: Limmat Verlag
: 9783038552840
: 1
: CHF 17.80
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 208
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Seit siebzehn Jahren versteckt sich Leo auf der Sandinsel in der Flensburger Förde. Nur im Oktober verlässt er sie, um seinen jährlichen Mord zu begehen. Er tötet Menschen, die der Welt Schaden zufügen und vom Elend anderer profitieren wie der Katastrophenkapitalist A. J. Hicks.?Als Leo von seinem jüngsten Mord auf die Sandinsel zurückkehrt, erwartet ihn Thea. Sie ist die Tochter seines vierzehnten Mordopfers, eines Mannes, der einst dafür sorgte, dass der seltene blaue Sand von der Insel verschwand. Thea ist fest entschlossen, ihren Vater zu rächen. Doch je mehr sie in den Sog der magischen Sandinsel gerät, umso mehr kommt ihr Plan ins Wanken.?Poetisch und mit viel Witz erzählt Christoph Keller von zwei Menschen, die angesichts der Klimakatastrophe Ungerechtigkeiten radikal bekämpfen und sich dabei ständig fragen: Muss man nicht töten, wer der Welt so viel Leid zufügt?

Christoph Keller, geboren 1963, ist der Autor zahlreicher preisgekrönter Romane, unter anderem «Der beste Tänzer», «Der Boden unter den Füssen» und «Jeder Krüppel ein Superheld», sowie Herausgeber der Anthologie «Und dann klingelst du bei mir. Geschichten in Leichter Sprache» (2023). Keller, der über zwanzig Jahre in New York gelebt hat und mit der amerikanischen Lyrikerin Jan Heller Levi verheiratet ist, schreibt auf Deutsch und Englisch. Er lebt in St.?Gallen.

ANKUNFT


Die Sandinsel ist die zweite und größte der vier Inseln, die den Fast-beim-Festland-Archipel bilden. Die kleinste heißt Ochseninsel, darauf befinde ich mich. Die Überfahrt auf die Sandinsel, die nur über die Ochseninsel zu erreichen ist, dauert achtzehn Minuten. Der Kutter fasst zweiundzwanzig Passagiere und fährt erst los, wenn diese Zahl erreicht ist und sich jemand bereit erklärt, das Steuer zu übernehmen. Die Fährfrau macht Liv schon lange nicht mehr.

Auf dem Kutter steht in ungelenken Buchstaben «Krake», was aber noch niemanden davon abgehalten hat, überzusetzen. Kaum jemand, der sich hier einfindet, dürfte wissen, dass ein Krake ein achtarmiger Tintenfisch mit drei Herzen ist, ein mit Saugnäpfen ausgestatteter Kopffüßler, dessen mythische Version mit sich in die Tiefe zieht, worauf sie Lust hat. Ich weiß es, ich habe mich auf diese Reise vorbereitet. Aber ich werde mich von keinem Kraken in die Tiefe ziehen lassen. Ich bin der Krake.

Wer auf die beiden anderen Inseln – die Seeräubermöweninsel und Juan-Fernández – will, muss sich seine Überfahrt vom Festland her selbst organisieren oder für das dänische Nationalparkprogramm arbeiten, zu dem der Archipel seit einigen Jahren gehört. Liv sagt, die Parkleute ließen sich nie auf ihrer Insel blicken. Ihre Bude dürfte eigentlich nicht in einem Nationalpark stehen, man habe aber ein Auge zugedrückt, weil sie schon da war, bevor es dem Nationalparkprogramm einfiel, sich die Inseln einzuverleiben. Auch, weil ihre Bude von nationaler Bedeutung sei. Auflage: Nichts dürfe angebaut, nichts verändert werden, nach Liv sei dann auch die Bude zu.

Das ist ihr recht. Was sich auf den anderen Inseln ereignet, bekommt sie auf der Ochseninsel nicht mit. Der Fast-beim-Festland-Archipel, «Nærfastlandsøhavet» auf Dänisch, ist das Stiefkind der dem Umweltministerium unterstellten Naturbehörde. Vieles von dem, was mir Liv erzählt, weiß ich bereits. Wenn sie abrupt schweigt, als wolle sie die nächsten Wörter nicht aus dem Mund fallen lassen, könnte ich ihren Satz weiterführen. Ich tue es nicht, es würde sie verletzen.

Die Inseln hüpfen vom Festland in die Flensburger Förde wie ein flach geworfener Stein. Von weit oben betrachtet könnte man sie für eine kleine Entenkarawane halten. Für mich sind sie Wolken.

Ein neuer Vulkan ist aufgebrochen …

Meine Insel scheint

eine Art Wolkenhalde zu sein. Alle übrig gebliebenen

Wolken der Hemisphäre sind eingetroffen und hängen

über den Kratern –

Diese Zeilen habe ich vor meiner Abreise in mein Notizbuch, in dem ich Gedichte sammle, eingetragen und bin jetzt überrascht, wie treffend sie sind.

Papa, dem die Zivilisation immer weniger zu bieten hatte und der mir schon früh beigebracht hat, unsinnige Regeln – seiner Meinung nach also die meisten – zu ignorieren, nahm mich manchmal auf eine seiner abenteuerlichen Reisen mit. Dies