: Melania G. Mazzucco
: Die Villa der Architektin
: Folio Verlag
: 9783990371572
: Transfer Bibliothek
: 1
: CHF 17.60
:
: Historische Romane und Erzählungen
: German
: 478
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Sie wird das Jahrhundert verblüffen. Die erste Architektin der Geschichte. Rom im 17. Jahrhundert - prachtvolle Paläste, monumentale Kuppeln, kostbarer Stuck. Durch die selbstherrliche Macht der Päpste und Kardinäle wächst die Stadt im barocken Prunk. Während Frauen Kind auf Kind gebären und sich für die Familie abschinden, malt eine 13-Jährige ihr erstes Altargemälde. Der Vater, plebejisches Künstlergenie und Komödiendichter, führt das Wunderkind in die Kunst ein und lehrt sie, an das Unmögliche zu glauben. Plautilla Bricci wird nicht nur eine bedeutende Malerin und Mitglied der Accademia di San Luca, sondern auch die erste Frau, die einen prächtigen Palazzo nach eigenen Entwürfen plant und vollendet. Gegen alle Widerstände wird ihr Name in den Grundfesten der Villa Benedetta auf dem Gianicolo eingraviert sein ...

Melania G. Mazzucco hat eine Vorliebe für historische Stoffe, sie recherchiert für ihre Romane jahrelang in Archiven und Bibliotheken, studiert Briefe und Originaldokumente. Sie erzählt mit epischer Kraft und großer Leichtigkeit, verwebt kunstvoll Geschichte mit Fiktion. Für den Roman 'Vita' über das Schicksal italienischer Auswanderer nach Amerika gewann sie 2003 den wichtigsten italienischen Literaturpreis Premio Strega. Für 'Die Villa der Architektin' wurde sie mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter den renommierten Premio Stresa und den Premio Manzoni. Ihre Romane wurden in 27 Sprachen übersetzt. Mazzucco lebt und arbeitet in Rom.

Der Wal


Das Ding war grau wie Staub und gekrümmt wie der Brennhut eines Alchemisten: unten bauchig, sich nach oben hin verjüngend. Es war nicht größer als ein halber Handteller. Plötzlich lag es auf dem Schreibtisch meines Vaters, ganz oben auf einem Stapel von Papieren, die er mit seiner hastigen Schrift bekritzelt hatte. Zuerst hielt ich es für einen Briefbeschwerer, das Fragment einer antiken Statue. Mein Vater sammelte nämlich, den lautstarken Protesten meiner Mutter zum Trotz, alle möglichen Objekte, egal ob sie menschengemacht oder ein Natur- oder Zufallsprodukt waren. Er grub sie aus, tauschte sie mit anderen Schatzjägern, hin und wieder kaufte er sogar ein Stück, sodass sein Atelier mittlerweile eher dem Laden eines Altwarenhändlers glich denn der Werkstatt eines Malers.

In Schachteln aus Birnbaumholz bewahrte er Teile von Märtyrerknochen auf, die großen Zehen vergangener Gottheiten und Nierensteine, die sein Schwager aus den Nachttöpfen seiner Patienten gefischt hatte. Er verstaute sie auf den Regalen zwischen zerfledderten, auf Hebräisch oder Latein verfassten Büchern und Abbildungen sezierter Körper aus dem Anatomieatlas; sorgfältig versiegelt in einer Glaskaraffe befanden sich sogar ein paar Haare desytzquinteporzotli und desxoloitzcuintli, des mexikanischen Hundes und Wolfes. Dieses stets im Halbdunkel liegende Zimmer, das nach Leim, verbranntem Holz und altem Papier roch, das Universum meines Vaters, als er noch nicht mein Vater war, übte auf mich eine unwiderstehliche Anziehung aus, wie ein Magnet auf einen Eisenspan.

Mein Vater wollte nicht gestört werden, legte jedoch nie die Kette vor die Tür. Im Grunde sah er mir gern zu, wie ich in seinen Schätzen stöberte. Meine Schwester Albina zeigte keinerlei Interesse für seine Zeichnungen und seine getrockneten Blumen. Er hob kaum merklich den Kopf vom Blatt und forderte mich mit an die Lippen gelegtem Finger auf, leise zu sein. Dann tauchte er die Feder in die Tinte und vergaß mich. Ich saß mit baumelnden Beinen auf einem Hocker und sah ihm zu, wie er schrieb, schrieb, schrieb. Keine Ahnung, was. Damals konnte ich gerade mal buchstabieren. Und ich verstand auch nicht, warum ein Maler so oft von der Feder Gebrauch machte.

Das Ding war jedoch weder das Fragment einer Skulptur noch ein Stein. Es stank durchdringend nach Meer und Fäulnis, als ob es einmal lebendig gewesen wäre und es zum Teil noch immer war. Es war Februar, aufgrund der Kälte mussten wir die Fensterläden geschlossen halten, und der Gestank verbreitete sich so rasch, dass einem übel wurde. Am ersten Tag forderte ihn meine Mutter angeekelt auf, das widerliche Ding verschwinden zu lassen. Mein Vater bedachte sie nur mit einem mitleidigen Blick. Schweig, dummes Weib, murmelte er, du hast ja keine Ahnung, wovon du sprichst. Das „widerliche Ding“ ist wertvoller als alles andere hier drinnen, sagte er tadelnd. Wie viel?, fragte meine Mutter, plötzlich interessiert, und streckte die Hand aus. Mein Vater gab ihr einen scherzhaften Klaps darauf. Manche Dinge sind so selten und kostbar, dass sie keinen Preis haben; ich würde es nicht einmal für tausend Scudi verkaufen. Für tausend Scudi würde ich sogar meinen Mann verkaufen, sagte meine Mutter lachend und blinzelte mir zu, doch leider ist er nicht so viel wert. Doch dann fügte sie überraschend liebevoll hinzu, Giovanni, wirf es weg, es verpestet die Luft, ich möchte nicht, dass die Kinder davon krank werden.