ANA
Der Himmel ist ein blaues Viereck. Gerahmt von den grauen Hausmauern der Anstalt. Oben schwebt eine weiße Wolke. Unten im Hof ist es windstill. Über den Dächern muss ein Sturm brausen. Warum sonst sollte sich die Form der Wolke so rasch verändern? Gerade noch war da ein Schiff. Das Schiff wird zu einem Wal. Der Wal zu einem Vogel mit riesigen Schwingen. Aber noch bevor er einen ersten Flügelschlag tut, zerzaust sein Gefieder schon wieder.
»Wo schaust du denn hin?«, will Marie wissen.
Ana senkt den Kopf und schaut wieder zu dem Mann, der mit einem Hammer in der Rechten auf dem festgestampften Erdboden kniet und mit Geduld einen rostigen Nagel geradeklopft. Schweiß tropft ihm von der Stirn. Erstaunlich dünne Arme hat der und spitze Ellenbogen, eine Glatze und buschige Augenbrauen. Das muss einer von denen sein, die nicht an ein Bett gefesselt liegen, nicht in einem der Zimmer hinter den vergitterten Fenstern bleiben müssen, die nach unten in die Höfe dürfen, die zwar einen Dachschaden haben, aber trotzdem einer nützlichen Beschäftigung nachgehen. Seine kleinen, tief im Schädel liegenden Augen fixieren den Nagel, der auf einem Hackstock liegt. Zeigefinger und Daumen halten ihn fest. Mit jedem Schlag scheint der Nagel sich ein wenig mehr zu strecken, ein wenig länger zu werden.
Kinn und Nase des Mannes sind blutverkrustet.
»Als wäre er gegen eine Mauer gerannt«, überlegt Ana.
»Als hätte ihm jemand eine Faust ins Gesicht geschlagen«, sagt Marie.
Beide wissen, dass sie im letzten der drei Höfe nichts verloren haben. Die Erwachsenen haben es ihnen oft genug gesagt: Dorthin nicht! Dorthin geht ihr nicht! Nicht dorthin! Die beiden scheren sich aber nicht darum. Warum auch? Niemand hat ihnen einen Grund genannt.
»Ist das alles?«, fragt Ana nach einer Weile enttäuscht. »Ein Mann, der Nägel geradeklopft?«
»Siehst du das nicht?« Marie übertreibt ihre Empörung. »Der Nagel ist schon längst gerade und der Mann klopft immer noch.«
Tatsächlich. Warum tut er das?
»Genau, warum tut er das?« Marie klingt, als wüsste sie die Antwort, sagt aber stattdessen: »Jetzt pass auf!« Sie streckt ihren Nacken, bläht ihre Lungen auf und ruft: »Du kannst aufhören, du Depp!«
Augenblicklich lässt der Mann den Hammer sinken, wirft den Nagel in einen Eimer, nimmt den nächsten verbogenen Nagel vom Boden und fängt wieder mit dem Geradeklopfen an.
»Und jetzt du!«
Ana zögert.
»Probier es!«, verlangt Marie »Oder traust du dich etwa nicht?«
Also gut. Anas Herz klopft schneller, schließlich holt sie tief Luft, dann schreit auch sie: »Aufhören!«
»Du Depp«, flüstert Marie ihr zu. »Mach schon!«
Und Ana echot mit Inbrunst: »Du Depp!«
Und der Mann hält tatsächlich inne, lässt den Hammer sinken und der rostige Nagel fäl