: Hans Flesch-Brunningen
: Wolfgang Straub
: Zur falschen Zeit
: Edition Atelier
: 9783990651254
: 1
: CHF 19.90
:
: Hauptwerk vor 1945
: German
: 304
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Fru?hling 1939: Der 18-jährige Anton Herbst lebt seit fu?nf Jahren mit seinem älteren Bruder Karl in London im Exil. Fernab der in Österreich verbliebenen Familie haben sie sich inmitten einer antifaschistischen Flu?chtlingsgemeinschaft ein neues Leben aufgebaut. Wegen des kritischen Gesundheitszustands des Vaters begibt sich der politisch weniger kompromittierte Anton auf den Weg nach Hause. Doch das Zuhause seiner Erinnerung existiert nicht mehr: u?berall Hakenkreuzfahnen und SA-Männer, dazwischen seine Familie, die sich offenbar bestens mit den neuen Umständen arrangiert hat. Viel mehr als der drohende Zweite Weltkrieg interessiert sich diese fu?r das Erbe, das der Vater nach seinem Tod hinterlassen wird. Irgendetwas geht hier nicht mit rechten Dingen zu. Als die Geschehnisse im Familiensitz am Fuße der Rax auf einen dramatischen Höhepunkt zusteuern, kann Anton es nicht erwarten, ins Exil zuru?ckzukehren.

Hans Flesch-Brunningen, * 1895 in Bru?nn/Tschechien, ? 1981 in Bad Ischl/Oberösterreich, studierte in Wien Jura, ab 1925 lebte er in Italien, Frankreich und Berlin. 1934 emigrierte er nach Großbritannien, von 1939 bis 1958 war er als Sprecher, Übersetzer und Redakteur in der österreichischen Abteilung der BBC tätig. 1963 kehrte er nach Wien zuru?ck und heiratete 1972 die Schriftstellerin Hilde Spiel. »Zur falschen Zeit« erschien 1940 unter dem Titel »Untimely Ulysses« in London und liegt nun erstmals in deutscher Übersetzung vor. Nach »Maskerade« (2023) ist es Hans Flesch-Brunningens zweiter im englischen Exil verfasster Roman, der erstmals in einer deutschen Übersetzung erscheint. Wolfgang Straub, geboren in Salzburg, Leiter Handschriften, Musikalien und Nachlässe an der Wienbibliothek im Rathaus, Projektleiter am Robert-Musil-Institut fu?r Literaturforschung, Klagenfurt. In der Edition Atelier hat er zuletzt Hans Flesch-Brunningens Roman »Maskerade« herausgegeben. Alexander Pechmann, geboren in Wien, Autor und Herausgeber, u?bersetzte und edierte zahlreiche Werke der englischen und amerikanischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts: u. a. von Herman Melville, Mary Shelley, F. Scott und Zelda Fitzgerald. Fu?r die Edition Atelier hat er zuletzt Hans Flesch-Brunningens Roman »Maskerade« u?bersetzt.

ERSTER TEIL


I. Plötzliche Initiative


Er liebte die Götter und die Bücher. Unter der Kuppel des Lesesaals fürchtete er sich nicht.

Draußen regnete es. Im Lesesaal des British Museum war es trocken und warm. Die kleinen elektrischen Lampen mit ihren grünen Schirmen brannten. Anton war entschlossen, an diesem Morgen ein ordentliches Stück Arbeit zu erledigen. Seine Aktentasche mit dem abgerissenen Griff lag neben ihm. Ungeöffnet. Er hatte jedoch das Gefühl, dass die Wichtigkeit der Aufsätze, die er am Nachmittag abgeben musste, durch die Ledertasche drang. Als hätte er kein Recht, hier zu sitzen und Nellie Reiser an ihrem Tisch heimliche Blicke zuzuwerfen.

Sie stand auf und kam zu ihm herüber. Sie stand dicht bei ihm und sagte mit sanfter Stimme: »Komm jetzt mit.« Er nickte zustimmend. Seine Kehle war trocken. Während er sein Buch abgab, wartete sie im Vestibül auf ihn. Sie trug ihr marineblaues, maßgeschneidertes Kostüm und einen winzigen viereckigen Hut. Als er durch die Drehtür trat, kam sie ihm entgegen.

Sie sagte: »Wir haben mindestens ein paar Stunden Zeit. Er ist bei einem Treffen in Birmingham, und seine Sekretärin kommt nicht vor vier Uhr zurück. Freut dich das nicht?«

Anton sagte: »Doch. Aber ich muss diese Papiere abschicken!«

»Antonio! Wie dumm von dir. Es ist auf unserem Weg. Fürchtest du dich immer noch vor deinem Bruder?«

Er antwortete nicht. Sie gingen im Regen durch die Great Russell Street. Die Mittagsausgaben der Abendzeitungen brachten Spalten mit Kommentaren aus aller Welt zu Hitlers Rede. In der ersten Straße, die rechts abbog, warteten eben erst angekommene Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich vor dem Bloomsbury House. Sie standen ohne Schirme im Regen, redeten unablässig und hatten große Angst.

Es war spät im April, doch Anton trug immer noch seinen blauen Rollkragenpullover. Sein Regenmantel war schmutzig und sein Hosenboden leicht durchgescheuert. Er trug einen Anzug aus dickem, grünlichem Tweed.

Er sah nicht sonderlich unternehmungslustig aus neben ihrer Eleganz, ihrem blonden Haar und dem marineblauen Kostüm, obwohl ihre Schuhe nicht auf Hochglanz poliert waren.

Sie nahmen die U-Bahn zum Lancaster Gate. Der Zug war überfüllt, und sie standen eng aneinandergedrückt in der Mitte des Abteils. Er suchte ihren Blick, dann fanden sich ihre Hände.

Ihre Lippen waren wie Hildes, dachte Anton, ebenso voll, üppig und grausam. Wenn er nur aufhören könnte, an Hilde zu denken! Schließlich war Hilde seine Schwester. Wenn er nur aufhören könnte, an Österreich zu denken. Er lebte nun seit fünf Jahren im Exil. Dennoch erinnerte er sich an Österreich. Und an den Annenhof. Er dachte ständig daran. Obwohl er drei Jahre in einer englischen Schule verbracht hatte.

Sie gingen durch die Straßen von Bayswater, hohe Häuser mit protzigen Säulen. Antons Herz klopfte. »Komisch!«, sagte er und blieb stehen. Er konnte nicht weitergehen. Es hatte wieder leicht zu regnen begonnen, und auf der Straße waren nur wenige Leute. Endlich kamen sie ans Ziel.

Nellie steckte den Schlüssel ins Schloss. Für eine so große Tür war es ein kleiner Schlüssel. »Dein Bruder hat angeblich gewisse Sympathien«, sagte sie. Nun standen sie in dem langen Korridor unter einer großen Glaslaterne.

Nellie nahm den Hut ab und strich ihr Haar aus der Stirn.

»Er ist ein alter Kämpfer der Februarrevolution«, sagte Anton. Eigentlich hätte er sie schrecklich gern auf der Stelle geküsst, sobald sie alleine waren. Doch jetzt konnte er es einfach nicht.

Sie durchquerten die große Wohnung. Sie war fürstlich möbliert, recht geschmackvoll, mit vielen Teppichen, Polstern auf den Sofas, langen Vorhängen und jeder Menge Bilder in dunklen Rahmen. Sie betraten eine Art Büro. Nellies Schlafzimmer lag nebenan. Es war schlichter möbliert als die anderen Zimmer, mit einem großen Bett und einer leichten Stepp