Kapitel 1
DieLions Bar am Alberts Dock war so voll, dass die Hintergrundmusik über das summende Stimmengewirr um uns herum kaum noch zu hören war. Als ich den Kopf von der Cocktailkarte hob, die ich eigentlich schon auswendig konnte, beugte meine beste Freundin Willow sich halb über den wackeligen Tisch zwischen uns, eine steile Falte zwischen den Brauen.
»Haben die ihre Preise etwa schon wieder angehoben?«
Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, während ich mit den Schultern zuckte. »Sie können es sich offensichtlich leisten.«
Willow schnaubte und sah sich zwischen den Menschen um. Ich konnte in ihrem Gesicht genau ablesen, was sie dachte, und das nicht nur, weil ich sie seit meiner jüngsten Kindheit kannte. Willow war ein offenes Buch, sie konnte ihre Gefühle nur schwer verbergen. Das war schon immer so gewesen. Und jetzt, in diesem Moment, wünschte sie sich genau wie ich diese Zeiten ein wenig zurück. Wir waren schon als Jugendliche ständig hier gewesen, hatten Milchshakes getrunken und über Mitschüler gelästert. Damals war dieLions Bar noch nicht so von Touristen überrannt gewesen, und wir hatten immer einen Platz am Fenster bekommen, mit Blick über das Wasser. Aber das war nicht das Einzige, was ich an dieser Zeit vermisste.
»Ich nehme einfach noch ein Bier«, knurrte Willow und winkte dem Kellner, ehe der wieder von der Menschenmasse verschluckt wurde.
Wahrscheinlich würde es wie beim letzten Bier mindestens eine halbe Stunde dauern, bis es da war.
Ich ließ den Finger über den Rand der kleinen Gläser gleiten, aus denen wir vorhin Shots getrunken hatten, und spürte ein leichtes Rumpeln in meinem Magen. »Wie lange gehen deine Semesterferien eigentlich noch?«
»Zwei Wochen.« Sie lehnte sich auf ihre Arme und beobachtete mich über den Tisch hinweg skeptisch. »Und dass du so fragst, bedeutet wahrscheinlich, dass du nicht mit mir zurück nach Cambridge kommst?«
Um der Antwort noch eine Weile zu entgehen, leerte ich den letzten Schluck meines Bieres. Die wohlige Wärme des Alkohols und der vielen Menschen hier drinnen hatte mich bereits eine Weile umfangen. Ich war müde, und bis eben hatte ich mich auch sehr zufrieden gefühlt. Das tat ich immer, solange ich nicht damit konfrontiert wurde, dass ich irgendwann über meine Zukunft nachdenken musste.
Willow wartete geduldig, ohne mich aus den Augen zu lassen. Sie fuhr sich mit einer Hand durch die kurzen braunen Haare. Als sie das letzte Mal auf Heimaturlaub in Liverpool gewesen war, waren ihre Locken noch bis weit über die Schultern gefallen, jetzt gingen sie ihr gerade einmal bis kurz unter die Ohren. Ich fragte mich unwillkürlich, wie sehr sie sich noch verändern würde, während sie so weit weg von mir studierte. Ob sie beim nächsten Besuch ein Tattoo haben würde? Oder ein Nasenpiercing? In meinem Magen regten sich Gefühle, die eine seltsame Mischung aus Neid und Sehnsucht nach der Zeit waren, als wir beide noch Kreideblumen in unserem Innenhof gemalt hatten.
»Nein«, sagte ich langsam und gerade laut genug, dass sie mich gut verstehen konnte. »Ich komme nicht wieder mit nach Cambridge.«
Kurz konnte ich so etwas wie Enttäuschung in ihrem Gesicht aufblitzen sehen, dann zuckte Willow mit den Schultern und stützte das Gesicht auf die Hände. »Gar nicht mehr?«
»Ich weiß nicht.« Ein unangenehmes Kribbeln wanderte über meine Wirbelsäule.
Wil