: Matthias Richter
: Im Dickicht Aus den letzten Monaten des Stückeschreibers. Vier Nachtstücke
: Wallstein Verlag
: 9783835387393
: 1
: CHF 19.10
:
: Sprach- und Literaturwissenschaft
: German
: 224
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Brecht und wir? Brecht heute? Kritische Nachfragen in literarischen Phantasien »Ändere die Welt: sie braucht es!« Schlagender hat kein deutschsprachiger Autor den revolutionären Appell formuliert als Bertolt Brecht. Die Welt umzukrempeln und die kommunistische Utopie zu verwirklichen - daran hielt er bis zu seinem Tod eisern fest. In sein Inneres aber konnte niemand blicken, vielleicht noch nicht einmal er selbst. Christa Wolf war irritiert über »diese konstante Weigerung, über sich zu reflektieren«. Und Max Frisch stellt in seinen Erinnerungen an Brecht fest: »Wir kannten ihn nicht«. Das ist der Ausgangspunkt für die literarischen Phantasien dieser vier Nachtstücke aus den letzten Monaten des Stückeschreibers Frühjahr und Sommer 1956: als ihm in der Berliner Charité klar wird, dass sein Herz nicht mehr lange mitmachen wird und seine politische Weltsicht vielleicht genauso wackelig ist; als der Besuch seines Verlegers dazu führt, dass er in maßlosem Hass auf Thomas Mann versinkt; als die junge, hübsche, kluge Praktikantin seine meisterhaften Gedichte widerborstig vom Kopf auf die Füße stellt; als schließlich ein Interview für das Time Magazine im Desaster endet. In der Figur des Stückeschreibers steckt einiges, das von Bertolt Brecht geborgt ist. Trotzdem ist der Stückeschreiber eine Phantasiegestalt. »Im Dickicht« ist eine Fiktion. Sie dreht sich um eine Frage: Warum eigentlich konnte Brecht seinem Dämon nicht mit der gleichen Energie widerstehen, mit der er Gegner bekämpfte? Warum versteckte er sich und schwieg hartnäckig, um sich mehr und mehr in die Rolle des linkisch-listigen Freundlichen, gleichwohl immer Überlegenen zurückzuziehen?

Matthias Richter, geboren 1957 in Potsdam, lebt in Celle. Er arbeitete als Literaturwissenschaftler, freier Mitarbeiter des NDR, Museumsdirektor, Lehrer, Fachleiter, Berater des Niedersächsischen Kultusministeriums, Fachdidaktiker, Autor und Buchliebhaber. Veröffentlichungen u.a.: Gespräche mit Peter Weiss (Mithg., 1985); ; Goeckings »Lieder zweier Liebenden« (Hg., 1988); Die Sprache jüdischer Figuren in der deutschen Literatur (1995); Literaturdidaktik (mit Martin Leubner und Anja Saupe, 3. Aufl. 2016); Heinrich von Kleist: Die Marquise von O.... / Das Erdbeben in Chili. Klausurtraining (2009).

1 Charité. Mitte Mai


Wieder eine schlechte Nacht. Unruhe, kalter Schweiß, schwarze Gedanken, trübe Ahnungen in der Wolfsstunde. Er war aufgestanden, als es eben hell zu werden schien. Das weiße Krankenzimmer in der Charité war noch in Grau getaucht. Er holte sich ein Glas Wasser und trank langsam, in kleinen Schlucken – wie gut das tat ! Es gefiel ihm, dass es das allereinfachste aller Getränke war (Labsal der Unteren, formulierte es in ihm). Noch einmal drehte er den schweren gusseisernen Hahn auf – der war offensichtlich auch noch aus der Vorkriegszeit, wie das ganze Klinikgebäude. Er lauschte dem Strahl und sah zu, wie das abfließende Wasser kleine Strudel im Ausguss bildete, sich stetig verändernde, unberechenbare (schon dies Winzige also unberechenbar ?).

Er sah in den Spiegel, in dem nur wenig Genaueres als die dunklen Umrisse seines Kopfes zu sehen waren. Einen Augenblick verharrte er, gab sich einen Ruck und drehte am schwarzen Bakelitschalter: Die Lampe über dem Spiegel ging an. Trübes Zwielicht der schwachen Birne. Weißlich fahl blickte ihn ein alter Mann an. Gewohnheitsmäßig drehte er den Kopf ein wenig nach rechts, dann wieder nach links; immer wollte er den Fotografen die vorteilhaftere Seite zeigen (nicht nur den Fotografen). Er lächelte darüber und drehte den Kopf wieder zurück, um der Wahrheit ins Gesicht zu sehen (heikles Wort, hatte er es vorsichtig genug benutzt ? Nicht immer, ganz bestimmt nicht).

 

Er ging mit tappenden kleinen Schritten eines alten Mannes ans Fenster und sah hinaus. Noch alles farblos. Lange vor Hahnenschrei, Dämmerung füllte den Garten, erinnerte er sich. Schönes Gedicht ! War das schon in Schweden oder noch in Dänemark ? Doch wohl Svendborg, 1937 oder 38. Der junge Mann, der die Kirschen in seinem Garten stahl, jetzt fiel ihm auch der Titel wieder ein, »Der Kirschdieb«. Der stopfte sich einfach die Kirschen in die Taschen (wurden die da nicht zerdrückt ?) und pfiff ungeniert ein Lied dazu, und als er den Stückeschreiber sah, hörte der Bursche nicht etwa auf, sondern winkte ihm fröhlich zu. Natürlich hatte er nicht die Polizei geholt; die Kirschen denen, die sie nutzen; außerdem mochte er keine – die Maden, und wenn man auf den Kern biss … Er hatte sich wieder ins Bett gelegt, aus dem im Gedicht eine ›Bettstatt‹ wurde. Was ein einziges Wort ausmacht ! Eine Verfremdung ins Zeitlose. Aber darum ging ’s nicht. Nein, da hatte sich etwas Beunruhigendes verborgen. Noch lange hatte der Stückeschreiber den jungen Mann sein lustiges kleines Lied pfeifen hören … (übrigens hatte der die geflickten Hosen nur im Gedicht an, in der Dämmerung konnte er das damals gar nicht genau sehen); der Stückeschreiber machte das wie der Bettlerkönig Jonathan Jeremiah Peachum: gab seinem Bettler jenes Aussehen, das zu den immer verstockteren Herzen sprach. Der Kirschdieb pfiff ein lustiges kleines Lied, während er selbst sich schlaflos im Bett wälzte – das machte dem Stückeschreiber zu schaffen, damals. Und morgens, wenn er sich erhob ? Musste er mit dem Finger auf diejenigen deuten, die einen Krieg vorbereiteten, der alles vertilgen würde, im Frühling 1938. Wie hatte er den Kirschdieb beneidet ! Nicht um die Freiheit, einfach die Kirschen zu klauen (der klaute Kirschen, er selbst klaute Verse, also ?), sondern weil er dieses lustige kleine Lied pfiff. Wie konnte er nur ! Lebten sie nicht alle in finsteren Zeiten ? Hatte der lustig Pfeifende die furchtbare Nachricht nur noch nicht empfangen ? Pfeif weiter, bitte, wie schön, dass du so unbesorgt wirkst – durfte man das sagen ? Er seufzte. Natürlich hatte er recht, natürlich war sein Gedicht an die Nachgeborenen ein Jahrhundertgedicht, und natürlich konnte es gar nicht anders gemacht werden. Schwere Worte in finsteren Zeiten, alle zutiefst berechtigt und