1. KAPITEL
„Bitte halten Sie hier!“ Annie warf sich ihren Rucksack über die Schulter, zerrte ihren Koffer zwischen den Sitzen hervor und winkte dem Busfahrer. „Ich muss hier raus,prego!“
Drei schwarzgekleidete Damen fortgeschrittenen Alters, außer ihr die einzigen Fahrgäste, blickten missbilligend in ihre Richtung. Der dicke Busfahrer schien Annies Bitte ignorieren zu wollen, schließlich gab es hier keine Haltestelle. Doch dann bremste er so plötzlich, dass sie einen langen Ausfallschritt machen musste, um das Gleichgewicht zu halten. Zischend glitt die hintere Bustür auf. Annie beeilte sich, ihr Gepäck ins Freie zu wuchten, und kaum war sie draußen, schloss sich die Tür. Der Bus fuhr wieder an.
Und sie war allein in gottverlassener Einöde.
Ich muss verrückt sein, dachte Annie.
Aber sie hatte es gesehen. Gerade eben. Das Traumhaus. Das Traumhaus schlechthin. Allerdings war der Bus danach eine sanfte Kurve gefahren, und jetzt war es hinter einem Hügel verborgen. Stattdessen umgab Annie nichts als Wildnis. Wunderschöne, in der Sonne leuchtende toskanische Wildnis.
Sie rückte sich den kleinen Lederrucksack zurecht, in dem ihre kostbare Fotoausrüstung verstaut war, zog den Griff des Rollkoffers heraus und marschierte zur letzten Kurve zurück. Dort hatte sie nah an der schmalen Straße ein schmiedeeisernes Tor gesehen, dahinter einen zypressengesäumten Aufweg, an dessen Ende zwischen mächtigen Eichen die Fassade des Traumhauses hervorgelugt hatte. Ganze zwei Sekunden, bevor der Bus abgebogen war.
Ihr Herz klopfte vor Aufregung. Hoffentlich hatte sie sich nicht getäuscht! Sonst würde dieser lange Anreisetag, der in den frühen Morgenstunden in London Heathrow begonnen hatte, mit einer wahrhaft schlechten Pointe enden. Erst war ihr Flugzeug mit zweistündiger Verspätung gestartet. In Florenz hatte die Sicherheitsschranke selbst dann noch gepiepst, als sie barfuß hindurchgelaufen war – das passierte ihr immer –, dann hatte sie ihren Leihwagen nicht bekommen, weil ihre Kreditkarte abgelaufen war. Kurzerhand war sie in den nächstbesten Bus gestiegen, der gottlob in die richtige Richtung fuhr.
Im Hotel in Radda in Chianti hätte sie in Ruhe überlegen können, wie sie weiter verfuhr. Stattdessen sprang sie im Niemandsland aus dem Bus. Weil sie ein Haus gesehen hatte.
Typisch Annie, würde ihre gut organisierte Freundin Holly sagen,chaotisch bis zum Abwinken.
Aber wegen Traumhäusern wie diesem war sie ja hier: Für die ZeitschriftLiving Select & Wonderful wollte sie einen ausführlichen Bildbericht über toskanische Landhäuser schreiben. Es war ihr bisher größter und wichtigster Auftrag. Und es würde ihr letzter sein, wenn sie nicht eine geradezu bahnbrechende Arbeit ablieferte.
Sie hasste diesen Druck. Aber sie konnte ihn auch vergessen, jedenfalls in solchen Augenblicken wie diesem. Als sie das Tor erreicht hatte, seufzte sie auf. Sie hatte sich nicht getäuscht; das Haus war umwerfend, es war das steingewordene Versprechen eines Lebenstraums, es war … Jetzt reiß dich zusammen, mahnte sich Annie selbst. Sie kramte die Kamera aus dem Rucksack und schoss durchs Gitter ein prächtiges Foto. Schnell noch eines von dem wunderschönen Weingarten links. Von dem kleinen Seitengebäude gleich hier rechts. Dann suchte sie nach einem Namensschild. Sie fand keines. Aber einen Klingelknopf, den sie entschlossen drückte.
In einer knorrigen Pinie vor dem Tor sirrte eine Überwachungskamera, die sich auf Annie ausrichtete. Ansonsten herrschte Stille. Ein Insekt begann zu zirpen, wohl eine Zikade. Das Lächeln, das Annie in Richtung der Kamera aufsetzte, tat allmählich weh. Nun, das Anwesen war groß. Schließlich kam ein Mann mit italienischer Gemütlichkeit den Aufweg herunter.
„Buongiorno.“ Er lüpfte eine Kappe, die das sonnenzerfurchte Gesicht eines etwa siebzigjährigen Mannes beschattete. „Was kann ich für Sie tun,Signora?“
„Mein Name ist Annie Wilkes. Ich komme aus London.“ Das klang wichtig. Sie streckte die Hand durchs Gitter, die der ältere Herr höflich schüttelte. Mehr als Smalltalk gab ihr Italienisch nicht her, also wechselte sie ins Englische. „Ich kam gerade zufällig vorbei und …“
„So, wirklich zufällig?“, erwiderte er in ihrer Sprache. Sein Blick war an ihrer Fotoausrüstung hängen geblieben.
„Ja, natürlich.“
„Signora …“ Er schüttelte den Kopf. Warum wirkte er plötzlic