1. Die Ausbreitung des christlichen Glaubens
Der Ausgangspunkt
Den Anfang des christlichen Glaubens bildet die Überzeugung, dass durch die Kreuzigung Jesu auf dem Golgotha-Hügel bei Jerusalem sein Anspruch, der von Gott gesandte Retter zu sein, nicht widerlegt war. Menschen machten nach der Kreuzigung die Erfahrung, dass Jesus in neuer Weise unter ihnen war. Welchen Charakter diese Erlebnisse hatten, lässt sich nicht mehr genau rekonstruieren. Jesu Anhängerinnen und Anhänger gewannen jedoch die Überzeugung, dass Gott sein Wirken trotz des gewaltsamen Todes ins Recht gesetzt hatte und sich weiterhin zu ihm bekannte. Dies wurde unter Rückgriff auf den jüdischen Glauben, dass Gottes Macht auch über den Tod hinausreicht, als Auferweckung Jesu von den Toten interpretiert. «Gott hat Jesus Christus von den Toten auferweckt» lautet das grundlegende Bekenntnis des christlichen Glaubens (vgl. z.B. Röm 10,9; 1 Kor 6,14; 1 Thess 1,10). Es ist unmittelbar verknüpft mit der Ausbreitung der Christusbotschaft nach Ostern, denn den Erscheinungserzählungen der Evangelien zufolge ist es der Auferstandene selbst, der seinen Jüngern den Auftrag zu Mission und Taufe erteilt (Mt 28,19f.), das gemeinsame Mahl erneuert (Lk 24,30) und den Geist verleiht (Joh 20,22).
Diese Überzeugung war zugleich die Grundlage dafür, den Tod Jesu als Heilstod für diejenigen zu deuten, die ihn als den Retter der Menschen bekennen. Der Tod am Kreuz war dann nicht mehr sein schreckliches Ende, sondern die Vollendung seines irdischen Weges als des von Gott gesandten Sohnes, der den Menschen Gottes heilvolle Nähe vermittelt.
Dieses Geschehen, so lautet eine sehr bald gewonnene Überzeugung, muss allen Menschen ausgerichtet werden. Das Christentum war deshalb von Beginn an eine missionarische Bewegung. Schon Jesus selbst hatte seine Botschaft vom anbrechenden Gottesreich als Wanderprediger in Galiläa und den angrenzenden Gebieten sowie in Jerusalem und dessen Umgebung verkündigt. Die Verbreitung der christlichen Botschaft ging nach den Osterereignissen sehr bald über diese Regionen hinaus und gelangte nach Syrien, Kleinasien (das Gebiet der heutigen Türkei), Nordafrika, in die griechischen Provinzen Makedonien und Achaia und, auch das zu einem frühen Zeitpunkt, sogar bis in die Hauptstadt Rom. Im 3. Jahrhundert war das Christentum dann im gesamten Römischen Reich und auch darüber hinaus verbreitet.
Die Verbreitung der christlichen Botschaft erfolgte durch wandernde Apostel und Propheten, die in den Schriften des Neuen Testaments und anderen frühchristlichen Texten häufig erwähnt werden. Sie zogen aus dem östlichen Teil des Römischen Reiches – aus Jerusalem bzw. Antiochia in Syrien (dem heutigen Antakya in der Türkei) – in die Provinzen des Römischen Reiches, verkündigten dort die Christusbotschaft und gründeten Gemeinden. Der Auftrag dazu wurde auf Jesus selbst zurückgeführt. In den ersten drei Evangelien Matthäus, Markus und Lukas finden sich Reden Jesu, in denen er die von ihm ausgewählten zwölf Jünger (bei Lukas auch noch einen größeren Kreis) aussendet, damit sie die Botschaft vom anbrechenden Gottesreich verbreiten. Am Beginn der Apostelgeschichte spricht der auferstandene Jesus zu den verbliebenen elf Jüngern – Judas hatte nach seinem Verrat Selbstmord begangen, etwas später wurde der Apostelgeschichte zufolge der Zwölferkreis durch die Nachwahl des Matthias wieder vervollständigt (Apg 1,15–26). Er trägt ihnen auf, seine Zeugen zu sein «in Jerusalem und ganz Judäa und Samaria und bis ans Ende der Erde» (Apg 1,8).
Jesus und seine Jünger stammten aus dem ländlichen Galiläa und hatten dort ihre primären Adressaten. Sehr bald fasste der Christusglaube aber auch in den Städten des Römischen Reiches Fuß. Die erste christliche Gemeinde entstand bereits nach den Osterereignissen in Jerusalem, bald darauf wurden Gemeinden in Damaskus und Antiochia gegründet. Paulus gründete christliche Gemeinden in den Provinzhauptstädten Thessaloniki, Korinth und Ephesus sowie in Philippi, einer – wie Korinth – römischen Kolonie. Auch im nordafrikanischen Alexandria, einer der größten Städte des Römischen Reiches, sowie in der Hauptstadt Rom selbst entstanden zu einem frühen Zeitpunkt Gemeinschaften von Christusgläubigen, ebenso wie in den kleinasiatischen Städten Kolossä, Laodicea, Hierapolis, Sardes, Smyrna, Pergamon, Magnesia, Philadelphia und Tralles. In ländlichen Gebieten wie Galatien, Phrygien und Lykaonien hat sich der christliche Glaube ebenfalls früh etabliert.
Die neu entstandenen Gemeinden mussten sich mit dem Ethos und der Lebenspraxis der jeweiligen lokalen Bevölkerung auseinandersetzen, weil viele zu den Gemeinden neu Hinzukommende aus diesen Milieus stammten. Die Frühphase des Christentums lässt sich deshalb zu einem wesentlichen Teil als Inkulturation beschreiben: Der christliche Glaube war in unterschiedliche soziale und religiöse Kontexte hinein zu vermitteln, was zur Begegnung mit verschiedenen kulturellen Traditionen und Lebensformen führte.
Die Hinwendung zu den Nichtjuden
Die Hinwendung christlicher Missionare zu Nichtjuden folgte einer programmatischen Entscheidung. Sie war weder selbstverständlich noch unumstritten, denn das Christentum war als jüdische Erneuerungs- und Reformbewegung entstanden. Tendenzen zu einer Öffnung des Christusglaubens für Nichtjuden sind gleichwohl früh zu registrieren. Bereits die Aktion Jesu gegen die Händler und Geldwechsler auf dem Jerusalemer Tempelplatz (Mk 11,15–17; Joh 2,14–16) und sein Wort gegen den Tempel (Mk 14,58; Joh 2,19–21) lassen eine Kritik an der Exklusivität des Tempels als Ort der Gegenwart Gottes erkennen. Der in der Apostelgeschichte erwähnte Stephanus, einer aus der Gruppe der sogenannten «Hellenisten» (Griechisch sprechender Judenchristen in Jerusalem), wird ebenfalls mit einer kritischen Sicht auf Tempel und Gesetz in Zusammenhang gebracht (vgl. Apg 6,8–15). Die Kritik zielte allerdings nicht auf eine grundsätzliche Infragestellung jüdischer Institutionen, sondern auf ihre Öffnung für Nichtjuden.
Der nächste Schritt war die Gründung der ersten Gemeinde aus Juden und Nichtjuden durch die aus Jerusalem vertriebenen Hellenisten im syrischen Antiochia, der nach Rom und Alexandria drittgrößten Stadt des Römischen Reiches. Der Apostelgeschichte zufolge wurden die Jünger (also die Christusgläubigen) dort zum ersten Mal alsChristianoí bezeichnet (Apg 11,19–26). Diese griechisch-lateinische Mischform (der lateinische Begriff istChristiani) leitet sich vom Christusbekenntnis und der Christusverkündigung als den Erkennungszeichen dieser Gruppe her. Vermutlich wurde sie zunächst von den Verwaltungsbehörden Antiochias verwendet, um die Christusanhänger als von den jüdischen Gemeinden unterschiedene Gruppierung zu kennzeichnen. Möglicherweise verband sich damit auch eine Einstufung als politisch verdächtige Vereinigung. In 1 Petr 4,16 und Tacitus, Ann. 15,44,2, wird der Begriff mit einer feindseligen Stimmung gegenüber den Christusanhängern in Zusammenhang gebracht, die auf ihrem Ruf als politisch subversiver Gruppe beruhen könnte. Als Selbstbezeichnung sindChristianoí und der SingularChristianós dann mehrfach in Texten des 2. Jahrhunderts bezeugt, so etwa in den Ignatiusbriefen (hier ist auch mehrfach der AusdruckChristianismós bezeugt), im Polykarpmartyrium und im Brief an Diognet.
Mit der Ausrichtung der Christusbotschaft an Nichtjuden entstand die Frage, wie die Aufnahme der Heiden und das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden gestaltet werden sollte. Müssen männliche Nichtjuden beim Eintritt in die Christusgemeinschaft beschnitten werden? Sollten die jüdischen Speiseregeln in der christlichen Gemeinde beachtet werden? Letzteres war weniger im privaten Kontext als bei den Zusammenkünften zum gemeinsamen Essen – vor allem bei der Feier des Herrenmahls bzw. der Eucharistie – von Bedeutung. Die Praxis der Gemeinde von Antiochia war dabei von der Überzeugung geleitet,...