: Dr. phil. Christian Hardinghaus
: Die Sucht nach Verbrechen Wie Internetdetektive in True-Crime-Fällen ermitteln
: Europa Verlag GmbH& Co. KG
: 9783958905658
: 1
: CHF 15.90
:
: Gesellschaft
: German
: 272
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Auf der Jagd nach Gerechtigkeit Von den sensationshungrigen Polizei-Gazetten viktorianischer Gassen bis hin zum modernen Podcast-Storytelling: True Crime ist heute Ausdruck morbider Popkultur. In den letzten zehn Jahren boomt das Genre so gewaltig, dass Wissenschaftler von einer Obsession sprechen und die Nachfrage an Geschichten über realen Mord und Totschlag mit der steigenden Kriminalitätsrate in Verbindung bringen. Warum zieht True Crime vor allem das weibliche Publikum an? Kann uns die Auseinandersetzung mit wahren Verbrechen davor schützen, selbst Opfer zu werden? Sind die Grenzen der Geschmacklosigkeit erreicht, wenn Fans über ihre 'Lieblings-Serienmörder' sprechen? Aus der Faszination für True Crime erwächst inzwischen ein weiteres Phänomen: das Websleuthing. Internetdetektive machen sich zwischen Bits und Bytes auf die Jagd nach Gerechtigkeit und versuchen über sogenanntes Crowdsolving den Strafverfolgungsbehörden entscheidende Informationen zur Ergreifung eines Täters zu liefern. Erste Studien bilanzieren ein positives Bild, warnen aber auch vor Gefahren wie Falschverdächtigungen und Selbstjustiz. Beides veranschaulicht dieses Buch durch den Rückgriff auf eine Vielzahl von Fallbeispielen. Eine Detailanalyse bietet Hardinghaus anhand von 18 kuriosen Fällen: Mysteriöse Cold Cases, unauffindbare Personen und nicht identifizierte Tote - jeder Fall ist ein Puzzle, das darauf wartet, zusammengesetzt zu werden. 'Die Sucht nach Verbrechen' ist ein Pionierwerk, das nicht nur für eingefleischte Fans des Genres, sondern auch für jene, die sich für die Psychologie der Kriminalität und die Auswirkungen der digitalen Welt auf die Strafverfolgung interessieren, unverzichtbar ist.

Dr. phil. Christian Hardinghaus, geb. 1978 in Osnabrück, arbeitet als Historiker, Autor und Fachjournalist. Er promovierte in den Fachbereichen Geschichte, Literatur- und Medienwissenschaften. Neben Sachbüchern schreibt er auch historische Romane, Krimis und Thriller.

KAPITEL 2
DIE PSYCHOLOGIE HINTER DER FASZINATION TRUE CRIME


»True crime is like a window into the depths of the human psyche. It allows us to explore the complexity of evil and reflect on our own humanity.«

Gillian Flynn

Angst und Prävention


Auf den ersten Blick erscheint es ungewöhnlich und abwegig, dass ein literarisches Genre Ratgeber-Funktion ausüben könnte. Doch laut einer Umfrage unter True-Crime-Fans geben ein Drittel der Befragten, die selbst Opfer eines Verbrechens geworden sind, an, dass entsprechende Sendungen ihnen geholfen hätten, ihre Erlebnisse zu verarbeiten. 63 Prozent hätten sich durch den Konsum von True Crime außerdem dazu entschieden, in ihre häusliche Sicherheit zu investieren, und 25 Prozent, einen Selbstverteidigungskurs zu belegen.11 Erste wissenschaftliche Studien, die sich mit der Erklärung des Phänomens True Crime beschäftigen, beziehen die Verarbeitung eigener Ängste und Traumata durch Identifikation mit Opfern sowie den Präventionsgedanken in ihre Analysen ein. Aus psychologischer Sicht kann das Interesse an True-Crime-Inhalten teilweise durch das Konzept der »angstbasierten Faszination« erklärt werden. Zuschauer setzen sich bewusst einer Angst aus, die realistisch und greifbar erscheint, um potenzielle Risiken für sich selbst abzuwägen. Dieser reflektierende Prozess kann dazu dienen, ein Gefühl der Kontrolle zu entwickeln, indem Strategien und Verhaltensweisen erlernt werden, die im Falle einer ähnlichen Gefahrensituation angewendet werden könnten. Ein Grund also, warum wir uns Geschichten über wahre Verbrechen ansehen, resultiert aus unserem Überlebensinstinkt heraus.

True-Crime-Formate ermöglichen es, dass Menschen schreckliche Dinge durch entsprechende physiologische Reaktionen wie einen Adrenalinausstoß quasi hautnah miterleben und daraus lernen können, ohne selbst tatsächlich in Gefahr zu sein. Dies ist ein grundlegender Ansatz, der seit vielen Jahren auch in der Verhaltenstherapie bei Phobien und Angststörungen Anwendung findet. Ian Case Punnett vergleicht die Gattung True Crime mit Märchen, da beide Genres geschaffen seien, um Menschen zu zeigen, wie sie sich in Sicherheit bringen können, und veranschaulichen, wen sie meiden sollten.12

Die Gestaltung von True-Crime-Podcasts zielt oft darauf ab, eine interaktive Erfahrung für die Zuhörer zu schaffen. Durch ihren starken Einbezug in die Sendung entsteht eine Art Gemeinschaftsgefühl, das den individuellen Umgang mit den belastenden Themen erleichtern kann. Die Hosts übernehmen dabei eine Rolle, die über das einfache Storytelling hinausgeht. Sie agieren als Begleiter, die die Zuhörer nicht nur durch die Komplexität des Falls führen, sondern durch ihre eigenen gezeigten emotionalen Reaktionen eine direkte Verbindung zum Publikum darstellen. Darüber hinaus bieten viele True-Crime-Podcasts Social-Media-Plattformen für Nachbesprechungen, Anregungen oder Diskussionen an, wo Zuhörer ihre Gedanken und Gefühle mit anderen teilen, ihre eigenen Ängste thematisieren und selbst erlebte Gewalttaten ansprechen können. Diese Erkenntnisse korrelieren mit Studienergebnissen, nach denen Frauen mehr Angst vor Verbrechen zeigen und gleichzeitig beim True-Crime-Konsum überrepräsentiert sind. Natürlich reagieren Produzenten auf die spezifische Nachfrage, sodass der Großteil aller Sendungen Mordfälle thematisiert, in denen Männer Frauen umbringen, obwohl statistisch gesehen weltweit mit 80-prozentigem Anteil männliche Personen deutlich häufiger ermordet werden als weibliche. Allerdings sind Frauen mehrheitlich Opfer von Beziehungstaten und Sexualdelikten. 70 Prozent der von einem Partner getöteten Menschen sind Frauen. 70 Prozent von 1398 Opfern, die zwischen 1985 und 2010 von Serienmördern umgebracht worden sind, sind weiblich.13 Statistiken zeigen auch, dass Frauen sich am meisten zu Fällen hingezogen fühlen, in denen ihnen das Opfer selbst optisch oder charakterlich ähnelt.

Der Anspruch, über True Crime Ängste abzubauen und sich vor Gefahrensituationen zu schützen, kann allerdings auch ins Gegenteil umschlagen, sodass Erzählungen über wa