KAPITEL 2
DIE PSYCHOLOGIE HINTER DER FASZINATION TRUE CRIME
»True crime is like a window into the depths of the human psyche. It allows us to explore the complexity of evil and reflect on our own humanity.«
Gillian Flynn
Angst und Prävention
Auf den ersten Blick erscheint es ungewöhnlich und abwegig, dass ein literarisches Genre Ratgeber-Funktion ausüben könnte. Doch laut einer Umfrage unter True-Crime-Fans geben ein Drittel der Befragten, die selbst Opfer eines Verbrechens geworden sind, an, dass entsprechende Sendungen ihnen geholfen hätten, ihre Erlebnisse zu verarbeiten. 63 Prozent hätten sich durch den Konsum von True Crime außerdem dazu entschieden, in ihre häusliche Sicherheit zu investieren, und 25 Prozent, einen Selbstverteidigungskurs zu belegen.11 Erste wissenschaftliche Studien, die sich mit der Erklärung des Phänomens True Crime beschäftigen, beziehen die Verarbeitung eigener Ängste und Traumata durch Identifikation mit Opfern sowie den Präventionsgedanken in ihre Analysen ein. Aus psychologischer Sicht kann das Interesse an True-Crime-Inhalten teilweise durch das Konzept der »angstbasierten Faszination« erklärt werden. Zuschauer setzen sich bewusst einer Angst aus, die realistisch und greifbar erscheint, um potenzielle Risiken für sich selbst abzuwägen. Dieser reflektierende Prozess kann dazu dienen, ein Gefühl der Kontrolle zu entwickeln, indem Strategien und Verhaltensweisen erlernt werden, die im Falle einer ähnlichen Gefahrensituation angewendet werden könnten. Ein Grund also, warum wir uns Geschichten über wahre Verbrechen ansehen, resultiert aus unserem Überlebensinstinkt heraus.
True-Crime-Formate ermöglichen es, dass Menschen schreckliche Dinge durch entsprechende physiologische Reaktionen wie einen Adrenalinausstoß quasi hautnah miterleben und daraus lernen können, ohne selbst tatsächlich in Gefahr zu sein. Dies ist ein grundlegender Ansatz, der seit vielen Jahren auch in der Verhaltenstherapie bei Phobien und Angststörungen Anwendung findet. Ian Case Punnett vergleicht die Gattung True Crime mit Märchen, da beide Genres geschaffen seien, um Menschen zu zeigen, wie sie sich in Sicherheit bringen können, und veranschaulichen, wen sie meiden sollten.12
Die Gestaltung von True-Crime-Podcasts zielt oft darauf ab, eine interaktive Erfahrung für die Zuhörer zu schaffen. Durch ihren starken Einbezug in die Sendung entsteht eine Art Gemeinschaftsgefühl, das den individuellen Umgang mit den belastenden Themen erleichtern kann. Die Hosts übernehmen dabei eine Rolle, die über das einfache Storytelling hinausgeht. Sie agieren als Begleiter, die die Zuhörer nicht nur durch die Komplexität des Falls führen, sondern durch ihre eigenen gezeigten emotionalen Reaktionen eine direkte Verbindung zum Publikum darstellen. Darüber hinaus bieten viele True-Crime-Podcasts Social-Media-Plattformen für Nachbesprechungen, Anregungen oder Diskussionen an, wo Zuhörer ihre Gedanken und Gefühle mit anderen teilen, ihre eigenen Ängste thematisieren und selbst erlebte Gewalttaten ansprechen können. Diese Erkenntnisse korrelieren mit Studienergebnissen, nach denen Frauen mehr Angst vor Verbrechen zeigen und gleichzeitig beim True-Crime-Konsum überrepräsentiert sind. Natürlich reagieren Produzenten auf die spezifische Nachfrage, sodass der Großteil aller Sendungen Mordfälle thematisiert, in denen Männer Frauen umbringen, obwohl statistisch gesehen weltweit mit 80-prozentigem Anteil männliche Personen deutlich häufiger ermordet werden als weibliche. Allerdings sind Frauen mehrheitlich Opfer von Beziehungstaten und Sexualdelikten. 70 Prozent der von einem Partner getöteten Menschen sind Frauen. 70 Prozent von 1398 Opfern, die zwischen 1985 und 2010 von Serienmördern umgebracht worden sind, sind weiblich.13 Statistiken zeigen auch, dass Frauen sich am meisten zu Fällen hingezogen fühlen, in denen ihnen das Opfer selbst optisch oder charakterlich ähnelt.
Der Anspruch, über True Crime Ängste abzubauen und sich vor Gefahrensituationen zu schützen, kann allerdings auch ins Gegenteil umschlagen, sodass Erzählungen über wa