: Ana Wetherall-Gruji?
: Blutsschwestern
: Verlag Kremayr& Scheriau
: 9783218014311
: 1
: CHF 15.20
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 192
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Blut ist dicker als Wasser. Ein feministisches Roadmovie zwischen Wien und dem Balkan. Übel zugerichtet muss Ljiljana untertauchen. Ihre erfolgreiche Schwester Sanja überredet sie, in die alte Heimat Serbien zu verschwinden. Doch statt Zuflucht und Hilfe zu finden, geraten die beiden in eine Fehde zwischen einer Mafia-Patin und ihren Widersachern. Die höllische Gewalt droht die Schwestern in tiefste moralische Abgründe zu reißen - nur die Verbindung zueinander kann sie noch retten. Der kraftvolle Debütroman von Ana Wetherall-Gruji? zerschmettert das Klischee der unterwürfigen, friedvollen Frau. Schnörkellos und mit bitterbösem Humor erzählt sie von Schwesternschaft, Heimat und kaltblütiger Rache. ',Ich kann nicht zurück', sagte sie leise. Sie konnte nicht lauter sprechen, jedes Wort schien neue Wunden in ihrer Kehle aufzureißen. Ein noch tieferer Schmerz überlagerte den körperlichen: Angst. Sie fürchtete sich vor der Polizei, vor ihrer Zukunft. Wenn sie ehrlich war, fürchtete sie sich aber auch vor sich selbst: Wie hatte sie das Messer nehmen können?'

Kurz vor Kriegsbeginn in Jugoslawien geboren, wuchs Ana Wetherall-Gruji? in Tirol auf. Nach Umwegen über Graz und Wien lebte sie fünf Jahre lang als Journalistin in Berlin. Ihre Arbeit fokussierte sich auf die Menschen am Rand und erschien unter anderem bei ze.tt, bento und VICE. 2023 erschien mit 'Das Baby ist nicht das verdammte Problem' (Kremayr& Scheriau) ihr erstes Sachbuch zu moderner Elternschaft. 'Blutsschwestern' ist ihr erster Roman.

1


»Wasch das Blut ab!«, sagte Sanja, ohne den Blick von dem zweistöckigen Haus abzuwenden, das aus einem Architektur-Bildband der 1980er gefallen zu sein schien. Sie reichte ihrer Schwester eine Wasserflasche. »Und zieh dich um!«

»Ich habe nichts mit«, sagte Ljiljana. Sie nahm die Flasche in die gesunde, linke Hand. Im Krankenhaus hatte sie sich nur die Jeans angezogen und ihre Jacke übergeworfen. Sie hatte kein Oberteil, das sie statt des fleckigen Krankenhaushemdes hätte anziehen können.

Sanja antwortete nicht. Sie starrte immer noch auf das Haus. Eine Zornesfalte hatte sich zwischen ihren Augenbrauen gebildet. Ljiljana wollte noch etwas sagen, aber als sie ansetzte, verschränkte Sanja die Arme vor der Brust. Ljiljana klemmte die Flasche zwischen den geschienten Arm und ihre Taille und versuchte mit der anderen Hand den Schraubverschluss aufzudrehen.

»Gib her!«, sagte Sanja, öffnete die Flasche und reichte sie ihrer Schwester.

Ljiljana hatte sich noch in der Nacht auf einer verlassenen Toilette irgendwo in Ungarn gewaschen, während Sanja draußen ihre Handys mit einem Stein zerstört hatte. In der flirrenden Hitze Serbiens hatten sich Reste von getrocknetem Blut mit Schweiß vermischt und Ljiljana wieder eingesaut. Während sie sich mit dem bisschen Wasser wusch, stieg Sanja ins Auto. Auf dem Beifahrersitz lag die Jacke ihrer Schwester. Billiges Lederimitat, das eng geschnitten war. Sie würde weder die Flecken noch das Hemd verdecken. Sanja griff auf den Rücksitz und bekam den steifen Stoff ihres Trenchcoats zu fassen. Sie hatte ihn trotz der Eile bei ihrer Flucht nicht einfach auf den Rücksitz geworfen, sondern zuerst das Innenfutter nach außen gedreht, damit er nicht dreckig würde.

»Hier, versuch den«, sagte sie beim Aussteigen. Ihre Schwester wirkte verloren in dem Mantel. Er reichte ihr fast bis an die Schienbeine. Aber er verdeckte immerhin das Hemd. »Sieht okay aus«, log Sanja. Ihr Blick wanderte vom Mantel zu Ljiljanas Gesicht.

Gleich würde Sanja einen Witz über ihr Gesicht machen. Sie würde irgendetwas Sarkastisches sagen, irgendetwas Geistreiches. So ging Sanja, so war ihr Vater mit Problemen umgegangen: darüber scherzen und sie bloß nicht an sich heranlassen. Das Witzchen würde sie ein bisschen verletzen, aber Ljiljana freute sich fast darauf, weil sie wusste, dass ihre Schwester danach wieder ein bisschen mehr sie selbst wäre. Sie wäre nicht mehr der verbissene Zombie, der die ganze Nacht über neben ihr am Steuer gesessen und stur auf die Straße gestarrt hatte, ohne ein Wort zu sagen. Der selbst dann nicht mit ihr gesprochen hatte, als er im Morgengrauen in einem verlassenen Waldstück geparkt und den Sitz zurückgeklappt hatte. Erst als Sanja sich weggedreht hatte, war Ljiljana aufgegangen, dass sie schlafen wollte, bevor sie weiterfahren würden.

»Lass uns reingehen«, sagte Sanja und deutete in Richtung Haus. Ljiljana nickte und folgte ihr. Sie hatten vor der Einfahrt am Straßenrand geparkt. Aber sie hätten auch mitten auf der Fahrbahn stehen bleiben können: Ihnen war seit mindestens einer Stunde kein Auto mehr begegnet. Die wenigen anderen Häuser in der Umgebung waren verlassen und verfallen. Das Gras reichte schon fast bis zu den Fenstern.

Das Gebäude vor ihnen war von einem rostigen Zaun umgeben, der irgendwann rot gewesen sein musste. Sanja konnte nicht erkennen