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»Wasch das Blut ab!«, sagte Sanja, ohne den Blick von dem zweistöckigen Haus abzuwenden, das aus einem Architektur-Bildband der 1980er gefallen zu sein schien. Sie reichte ihrer Schwester eine Wasserflasche. »Und zieh dich um!«
»Ich habe nichts mit«, sagte Ljiljana. Sie nahm die Flasche in die gesunde, linke Hand. Im Krankenhaus hatte sie sich nur die Jeans angezogen und ihre Jacke übergeworfen. Sie hatte kein Oberteil, das sie statt des fleckigen Krankenhaushemdes hätte anziehen können.
Sanja antwortete nicht. Sie starrte immer noch auf das Haus. Eine Zornesfalte hatte sich zwischen ihren Augenbrauen gebildet. Ljiljana wollte noch etwas sagen, aber als sie ansetzte, verschränkte Sanja die Arme vor der Brust. Ljiljana klemmte die Flasche zwischen den geschienten Arm und ihre Taille und versuchte mit der anderen Hand den Schraubverschluss aufzudrehen.
»Gib her!«, sagte Sanja, öffnete die Flasche und reichte sie ihrer Schwester.
Ljiljana hatte sich noch in der Nacht auf einer verlassenen Toilette irgendwo in Ungarn gewaschen, während Sanja draußen ihre Handys mit einem Stein zerstört hatte. In der flirrenden Hitze Serbiens hatten sich Reste von getrocknetem Blut mit Schweiß vermischt und Ljiljana wieder eingesaut. Während sie sich mit dem bisschen Wasser wusch, stieg Sanja ins Auto. Auf dem Beifahrersitz lag die Jacke ihrer Schwester. Billiges Lederimitat, das eng geschnitten war. Sie würde weder die Flecken noch das Hemd verdecken. Sanja griff auf den Rücksitz und bekam den steifen Stoff ihres Trenchcoats zu fassen. Sie hatte ihn trotz der Eile bei ihrer Flucht nicht einfach auf den Rücksitz geworfen, sondern zuerst das Innenfutter nach außen gedreht, damit er nicht dreckig würde.
»Hier, versuch den«, sagte sie beim Aussteigen. Ihre Schwester wirkte verloren in dem Mantel. Er reichte ihr fast bis an die Schienbeine. Aber er verdeckte immerhin das Hemd. »Sieht okay aus«, log Sanja. Ihr Blick wanderte vom Mantel zu Ljiljanas Gesicht.
Gleich würde Sanja einen Witz über ihr Gesicht machen. Sie würde irgendetwas Sarkastisches sagen, irgendetwas Geistreiches. So ging Sanja, so war ihr Vater mit Problemen umgegangen: darüber scherzen und sie bloß nicht an sich heranlassen. Das Witzchen würde sie ein bisschen verletzen, aber Ljiljana freute sich fast darauf, weil sie wusste, dass ihre Schwester danach wieder ein bisschen mehr sie selbst wäre. Sie wäre nicht mehr der verbissene Zombie, der die ganze Nacht über neben ihr am Steuer gesessen und stur auf die Straße gestarrt hatte, ohne ein Wort zu sagen. Der selbst dann nicht mit ihr gesprochen hatte, als er im Morgengrauen in einem verlassenen Waldstück geparkt und den Sitz zurückgeklappt hatte. Erst als Sanja sich weggedreht hatte, war Ljiljana aufgegangen, dass sie schlafen wollte, bevor sie weiterfahren würden.
»Lass uns reingehen«, sagte Sanja und deutete in Richtung Haus. Ljiljana nickte und folgte ihr. Sie hatten vor der Einfahrt am Straßenrand geparkt. Aber sie hätten auch mitten auf der Fahrbahn stehen bleiben können: Ihnen war seit mindestens einer Stunde kein Auto mehr begegnet. Die wenigen anderen Häuser in der Umgebung waren verlassen und verfallen. Das Gras reichte schon fast bis zu den Fenstern.
Das Gebäude vor ihnen war von einem rostigen Zaun umgeben, der irgendwann rot gewesen sein musste. Sanja konnte nicht erkennen