1. Kapitel
Die Frau, die mit den beiden Männern durch die hallenden Gänge des Leichenschauhauses schritt, war eine Klasse für sich. Sie hatte schulterlanges, blondes Haar, das in burschikosen Locken ihr hübsches Gesicht rahmte und locker in die Stirn fiel.
Die langbeinige Blondine bewegte sich mit dem schnellen Schritt eines Mannequins auf dem Laufsteg. Sie kannte sich dort auch aus, denn ehe sie zur inzwischen legendär gewordenen PSA stieß und als Agentin alle Tests und Trainings mit Bravour bestand, war sie Vorführdame.
Die Attraktive war niemand anderes als Morna Ulbrandson. Nach den merkwürdigen Begleitumständen und den Feststellungen beim Tod einer gewissen Leila Shelton war Morna Ulbrandson alias X-GIRL-C von dem geheimnisvollen Leiter derPsychoanalytischen Spezial-Abteilung sofort auf den Weg geschickt worden. Mornas Begleiter waren Edward Higgins, seines Zeichens Chief-Inspector bei New Scotland Yard, und Dr. Ronald Meechum, ein Gerichtsmediziner, der die aufgefundene Tote untersucht und einen ausführlichen Bericht geschrieben hatte. Der diensthabende Angestellte des Leichenschauhauses hatte sich gar nicht die Mühe gemacht, mitzukommen. Edward Higgins kannte sich hier aus. Der sympathische Engländer trug einen dezent gemusterten, dunkelgrauen Anzug und bewegte sich mit erstaunlicher Elastizität.
Dabei stand Higgins kurz vor der Pensionierung, an die er jedoch noch nicht denken wollte. Leila Sheltons Leiche war in einer besonderen Kammer untergebracht. Higgins hatte sich einen Schlüssel hierzu geben lassen und schloss auf. Die Kühlkammer lag im Keller des langgestreckten Backsteingebäudes. In dem schmalen Raum, der von einer vergitterten Deckenleuchte schwach erhellt wurde, standen rechts an der Wand zwei Rollbahren hintereinander und in der Ecke lag ein halbhoher, breiter Gegenstand, der von einem Laken abgedeckt war. Die Luft, die den drei Menschen entgegenschlug, war kalt.
»Hier ist sie, Morna«, sagte Higgins nur und zog mit spitzen Fingern das Leintuch weg. Darunter hervor kam eine sitzende junge Frau. Leila Shelton! Sie hockte noch genau so da, wie man sie nach ihrem Tod in der Duschwanne gefunden hatte, verkantet und in bizarrer Haltung, so wie sie zusammengebrochen war. Fünfzehn Stunden nach ihrem Tod hatte man sie gefunden. Da war Leila schon steif. Man hätte ihr sämtliche Knochen im Leib brechen müssen, um sie wieder in Form zu bringen.
»Ich habe in ihren Adern keinen Tropfen Blut mehr gefunden«, ließ Dr. Meechum sich vernehmen. Er hatte schütteres, dunkles Haar, durch das seine Kopfhaut schimmerte. Dabei war Meechum erst Ende dreißig. Er neigte zum Bauchansatz und vermittelte den Eindruck eines Menschen, der gern aß und trank.
Morna Ulbrandson nickte wortlos und besah sich die Leiche eingehend. Die beiden blutunterlaufenen Bisswunden am Hals und das Mal der Fledermaus an der Schläfe der Toten interessierten sie besonders.
»Ich hoffe nur eines, Morna«, flüsterte Edward Higgins, der neben ihr in die Hocke gegangen war.
»Dass unser alter Freund Dracula nicht wiederauferstanden ist und sein Unwesen treibt. Zu London scheint er eine besondere Beziehung zu haben, und die Begegnung und Ereignisse von damals habe ich nie vergessen können ...«
»Das ist verständlich, Edward. Wenn man zum ersten Mal mit einer Sache konfrontiert wird, die man nie für möglich gehalten hat, zweifelt man zunächst mal an seinem Verstand. Monster, Schwarze Magie, Spuk, Vampire, Wiedergänger und Zombies sind interessant und vermitteln uns allen ein Gefühl von Schauer und Gänsehaut, wenn sie im Roman oder Film vorkommen. Der Gedanke, dass es so etwas auch wirklich geben könnte, entwickelt sich höchstens mal im Hinterstübchen, wird aber dann nicht mehr ganz ernst genommen. Bis der Moment im Leben eines Menschen kommt, da Dracula oder einer seiner Nachboten persönlich vor der Haustür steht ...«
»Soähnlich war meine Erfahrung mit dem Unwirklichen und Unfassbaren«, gestand Edward Higgins. Damals hatte er zum ersten Mal von der geheimnisvollen Spezialorganisation PSA gehört. Seit jenen Tagen war er einer der intensivsten und aufmerksamsten Mitarbeiter. Sobald in einem Fall, der auf seinem Schreibtisch landete, ein undurchschaubarer Faktor erkennbar war, gab er der PSA einen persönlichen Hinweis. Bei den meisten Behörden würde die Meldung ohne eine zusätzliche Stellungnahme per Fernschreiber weitergegeben. Das war immerhin schon ein Fortschritt. Die beiden Hauptcomputer der PSA speicherten Hunderttausende von Fällen und verglichen sie mit Ereignissen, die früher möglicherweise schon mal in Erscheinung traten, die Menschen in Angst und Schrecken versetzten und sogar in den Tod trieben. Dinge, die man woanders nicht mehr bearbeiten konnte, weil die Mitarbeiter eine falsche Einstellung dazu hatten oder gar nicht auf die Idee kamen, dass sich etwas Außergewöhnliches dahinter verbarg, waren das Betätigungsfeld der Frauen und Männer, die ihr Leben in den Dienst der PSA stellten. Und damit in denDienst der Menschheit, was als feine Gravur in der massivgoldenen Weltkugel stand. Morna trug den Miniatur-Globus als Anhänger an einem Armkettchen. Er enthielt eine komplizierte, vollwertige Sende- und Empfangsanlage, mit der die PSA-Agentin von jedem Punkt der Erde ausüber Satellitenfunk mit der Zentrale in New York Kontakt aufnehmen oder Anweisungen