1. Kapitel
Der Mann hinter dem nierenförmigen Schreibtisch wirkte auf den ersten Blick sympathisch.
Er sah so aus, dass man selbst als Fremder sofort Vertrauen zu ihm fassen konnte. Daranänderte auch die Tatsache nichts, dass er eine dunkle Brille trug.
Der Mann war blind. Sein Name, David Gallun. Er war Leiter und Initiator der PSA, er hatte sie ins Leben gerufen, er war der geheimnisvolle X-RAY-1, der im Hintergrund die Fäden zog, dessen wahre Identität nur ganz wenigen Menschen bekannt war. Die Agentinnen und Agenten der PSA kannten ihren Chef nicht persönlich. Nur seine Stimme, wenn er sichüber den PSA-eigenen Funksatelliten meldete, war ihnen bekannt.
David Gallun alias X-RAY-1, grauhaarig, väterlich, nahm in seinem Büro die neuesten Meldungen entgegen. Auf dem Schreibtisch standen mehrere moderne, flache Tonbandgeräte, in die Platte waren Mikrofone eingelassen, aus einem Schlitz glitt eine silberfarbene Metall-Folie, auf der in Braille-Schrift die entscheidenden Begebenheiten dieses Tages eingestanzt waren.
Außergewöhnlich schnell tastete der Blinde die Folie ab.
Seine Miene war ernst und verschlossen.
»Donald Richardson«, murmelte er,»verschwunden auf der Fahrt nach Hause. Sein Verschwinden ist rätselhaft, und es gibt keine vernünftige Erklärung dafür ... Richardson wurde noch gesehen, als er in seinen Wagen stieg und die Stadt verließ. Auf einer Ausfallstraße wurde er von einem Labor-Kollegenüberholt. An der nächsten Kreuzung musste dieser Mann halten. Allen Gesetzen der Logik zufolge hätte wenig später auch Richardsons Wagen aufschließen müssen. Eine Kreuzung, auf der er in eine andere Richtung hätte fahren können, gab es nicht. Mister Borgh, Doktor der Physik und der Chemie, zeigte sich darüberüberrascht und sagte auf der Polizei aus, dass eine Täuschung unmöglich wäre. Donald Richardsons Auto hätte an ihm vorbeikommen müssen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Aber der Wagen verschwand spurlos ...«
David Gallun nagte an seiner Unterlippe.
Dass Menschen auf rätselhafte Weise spurlos verschwanden, war keine Besonderheit.Überall in der Welt gab es solche Fälle, die die untersuchende Behörde immer wieder vor unlösbare Probleme stellte. Mehrere tausend Menschen tauchten Jahr für Jahr unter, ihr Schicksal wurde nie geklärt. Dabei handelte es sich eindeutig nicht um Verbrechen, wie entsprechende Untersuchungen bewiesen. Die auf rätselhafte Weise Untergetauchten waren angeblich in Risse und Spalten gerutscht, die die Dimensionen voneinander trennten. Sie verschwanden in anderen Räumen oder anderen Zeiten. Etwas Genaues wusste niemand. Bisher gab es nur Vermutungen.
Die Computer der PSA, von den Angehörigen der großen und schlagkräftigen Organisation scherzhaft»Big Wilma« und»The clever Sofie« genannt, speicherten die eingehenden Angaben.
Am Abend traf eine weitere, sehrähnliche Meldung ein. Sie betraf einen gewissen Mike Coogan, der mit seinem Team an der Entwicklung neuer biologischer Waffen arbeitete und im Auftrag der Regierung in einem Betrieb tätig war. Auch Coogan war auf rätselhafte Weise verschwunden. Es gab eine Aussage seiner Frau Sue, die behauptete, er hätte sehr unruhig geschlafen. Dann sei er aufgestanden, um noch ein wenig im Garten spazierenzugehen ...
Von diesem Spaziergang war er nicht mehr zurückgekehrt.
Die zuständige Polizei hatte den Garten und die nähere Umgebung des Hauses gründlich abgesucht. Es gab keine Spuren von Gewalttätigkeit.
Hatte sich auch für Mike Coogan zufällig ein Spalt zwischen den Dimensionen geöffnet? War er ins Nichts gefallen? Irrte er durch ein anderes Universum, ohne jemals die Chance einer Rückkehr zu haben?
Einen Moment hielt David Gallun inne, starrte sinnend vor sich hin und schien vergessen zu haben, dass er die Folie mit der in Blindenschrift verfassten Botschaft noch immer in Händen hielt.
Auf der Schmalseite der Tischplatte befanden sich an seinem Sitzplatz mehrere Tasten. Eine davon betätigte er. Ein Mikrofon glitt langsam aus der Vertiefung.
»Hallo, Bony? Kannst du mich hören?«, fragte X-RAY-1.
Aus einem verborgenen Lautsprecher meldete sich gleich darauf eine klare Stimme.»Ja, Sir. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich verlasse in wenigen Minuten das Büro. Wir werden nicht nach Hause fahren, Bony. Bereite dich schon mal seelisch auf eine größere Fahrt vor. Ich möchte mir gern das Anwesen und die Frau von Mister Coogan näher ansehen.«
Dass er»ansehen« sagte, passte nicht zu einem Mann, dessen Augen keine Bilder wahrnehmen konnten. Und doch störte sich der Empfänger, an den diese Worte gerichtet waren, nicht daran.
Er wusste, dass David Gallun eine andere Möglichkeit hatte, Menschen zuüberprüfen. Er war ein Empath, das bedeutete, dass er Stimmungen und Gefühle anderer wahrnehmen konnte. Das Schicksal hatte ihn seines Augenlichts beraubt, ihm gleichzeitig eine andere Gabe zuteil werden lassen. Dass er sich dafür interessierte, in der Nähe Sue Coogans zu sein, schien seinen Grund zu haben ...
Ronald Pokins warf einen Blick auf die beleuchtete Skala der Uhr am Armaturenbrett.
»Noch zehn Minuten, Darling«, sagte er ruhig.»Dann sind wir da.« Seine Worte waren noch nicht verklungen, da gab es einen Knacks im Motor.»He?«, entfuhr es Pokins.»Das Ding wird uns doch jetzt nicht im Stich lassen. Noch acht Meilen bis zu Mary, die werden wir doch wohl noch schaffen ...«
Wi