1. KAPITEL
Natalie Briggs hängte sich ihr Namensschild um. Gelangweilt überflog sie die Namen auf den Schildern, die vor ihr auf dem Tisch lagen.
Als ihr Blick auf das von Josh Carlson fiel, zuckte sie zusammen. Rasch wandte sie sich ab und versuchte, sich die plötzlich aufkommende Panik nicht anmerken zu lassen. Wie konnte das sein?
Melissa hatte ihr versichert, dass Josh nicht kommen würde. Vor einigen Jahren war er in der Anwaltskanzlei in Houston, für die er seit dem Examen arbeitete, zum Partner aufgestiegen. Da hatte er unmöglich Zeit für ein albernes Klassentreffen. Das zumindest hatte Melissa behauptet.
Natalie hegte keinen Groll mehr gegen Josh. Dennoch verspürte sie keine Lust, ihn nach all den Jahren wiederzusehen.
„Natalie!“
Noch bevor sie sich umdrehen konnte, fand Natalie sich in einer stürmischen Umarmung wieder. Auch ohne das Gesicht zu sehen, wusste Natalie, dass die kräftigen Arme zu Melissa Bailey Pelton gehörten – dem einzigen Menschen im winzigen Camden in Texas, zu dem sie nach der Schulzeit Kontakt gehalten hatte.
Mit ihrem leuchtend roten Haar und den schelmischen grünen Augen strahlte Melissa eine Jugendlichkeit aus, die sie vermutlich auch mit Hundert nicht verlieren würde.
„Natalie, du siehst toll aus! Ich kann nicht glauben, dass du tatsächlich gekommen bist!“
„Aber ich habe doch gesagt, dass ich komme!“ Natalie senkte die Stimme zu einem Flüstern. „Aberdu hastmir gesagt, dass Josh auf keinen Fall kommt!“
„Er hat in letzter Minute auf die Einladung geantwortet“, erwiderte Melissa achselzuckend. „Also, ich freue mich. Wir haben die letzten Jahre hin und wieder telefoniert und E-Mails geschrieben, aber gesehen habe ich ihn nicht mehr, seit ihr zwei euch getrennt habt. Wie lange ist das jetzt her? Zwanzig Jahre?“
„In diesem Monat sind es genau zwanzig Jahre, ja.“
„Aha, du zählst also noch.“
Bevor Natalie antworten konnte, zog Melissa sie zu einem Tisch, an dem einige Mitschüler von damals saßen. Sie tranken Bier und knabberten an Chicken Wings. „Seht mal, wen ich gefunden habe!“
„Hey, das ist ja Bohnenstange!“
Fröhliches Stimmengewirr kam auf, und Natalie begrüßte ihre Freunde von damals. In der Highschool waren sie die Klugen gewesen. Diejenigen, die in Englisch die Bücher wirklich lasen und sogar Spaß daran hatten. Die aufs College wollten, auch wenn später nicht alle studiert hatten.
„Du siehst gut aus, Bohnenstange“, sagte Tommy. Er war es, der ihr damals den wenig schmeichelhaften Spitznamen verpasst hatte, weil sie so mager gewesen war.
„Ich habe zugenommen“, entgegnete Natalie lächelnd.
Sie umarmte ihre ehemaligen Klassenkameraden und schüttelte den Ehepartnern die Hände. Erinnerungen an die Schulzeit kamen auf. Da war Diane Helms, die in der Marschkapelle Flöte gespielt hatte. Bud Conklin, der Bücher über theoretische Physik verschlungen hatte. Tommy Garrett, der Streiche liebte. Obwohl sie weniger Haare, einen runderen Bauch oder mehr Lachfalten hatten, erkannte Natalie alle sofort wieder.
Inmitten ihrer Freunde bereute es Natalie, dass sie die Verbindung hatte abreißen lassen. Aber nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie keinen Grund mehr gesehen, hierher zurückzukehren.
Camden und ihre alten Freunde hätten sie nur schmerzhaft daran erinnert, wie glücklich sie alle gewesen waren – wie glücklich sie und Josh gewesen waren, bevor die Wirklichkeit sie eingeholt hatte.
Ein anderer ehemaliger Mitschüler trat vor, um N