1. KAPITEL
Das Gute an Smartphones war, dass man alle vernichtenden Kommentare jederzeit abrufen konnte, wenn man es sich mit der ganzen Welt verscherzt hatte.Das Gute? Nun, ja …
Ein Tweet im Internet …
Gebt @evieIT-Girl eine Ratte zu fressen. Wie kann sie @SurvivalJackT nur so beleidigen? #Tussi
Neue Facebook-Gruppe …
Schmeißt Evie Staverton-Lynch aus der Reality-Show Miss Knightsbridge. 15000 likes. Tendenz steigend …
Neues Video auf youtube …
Sehen Sie hier, wie It-Girl Evangeline Staverton-Lynch behauptet, die Expeditionen von Survival-Experten Jack Trent wären eine Lüge.
Das niederträchtige Video war erst vor zwei Tagen ins Internet gestellt worden, aber Hunderttausende hatten es schon angeklickt.
Evie stellte ihr Handy aus, um die Hasstiraden nicht länger ertragen zu müssen, und nippte an dem scheußlichen Kaffee. Sie saß im Büro von dem einzigen Menschen, der ihr vielleicht aus der schrecklichen Situation heraushelfen konnte, in die sie sich selbst hineinmanövriert hatte.
Der Künstleragent Chester Smith, dem Evie ihren kometenhaften Aufstieg von einer unbedeutenden Tochter aus gutem Haus zum Liebling der Fernsehzuschauer zu verdanken hatte, saß ihr am gläsernen Schreibtisch gegenüber. An den Wänden seines Büros hingen Dutzende, mit persönlichen Widmungen versehene Fotos von Fernsehstars, deren erfolgreiche Karrieren er gemanagt hatte. Auf dem Tisch lagen sämtliche Klatschblätter des Tages. Mindestens drei von ihnen hatten ein grobkörniges Foto von Evie auf dem Titel. Chester warf seine perfekt frisierte Tolle zurück, dann zog er ein Tablet aus der Tasche, klappte den knallbunten Deckel auf und drückte auf ‚Play‘. Er führte Evie das heimlich mit einem Handy aufgenommene Video vor, als wäre der demütigende Film nicht sowieso schon seit achtundvierzig Stunden in Dauerschleife vor ihrem geistigen Auge abgelaufen.
Obwohl die Bildqualität nicht gerade berauschend war, saß dort unverkennbar sie selbst. Als wäre noch ein zusätzlicher Beweis nötig, lag ihre Lieblings-Designer-Clutch auf der blütenweißen Tischdecke, gleich neben dem Wasserglas. Ihr Vater saß ihr gegenüber, den kerzengerade durchgestreckten Rücken der Kamera zugewandt. Im Hintergrund waren die Leute zu sehen, die vor drei Tagen in dem schicken Promi-Restaurant im Londoner Viertel Knightsbridge zu Mittag gegessen hatten. Deshalb hatte sie den Laden überhaupt ausgesucht, als ihr Vater sie zum Mittagessen hatte antreten lassen. Ihr Vater bat sie nicht um ein Treffen, erzitierte sie in ein Restaurant. Evie durfte lediglich entscheiden, wie viele Gänge sie essen wollte. Und wenn sie sich sowieso schon eine Stunde lang seine Kritik anhören musste, dann wollte sie wenigstens von Menschen umgeben sein, denen sie sich einigermaßen zugehörig fühlte.
Und sie hatte Glück gehabt, denn einige Fans hatten das Essen ein paar Mal unterbrochen, um sich mit ihr fotografieren zu lassen. Ihr Vater war darüber so wütend geworden, dass er beinahe geplatzt wäre – und war es ihr nicht vor allem darum gegangen? Ihr Vater mochte nicht viel von ihr halten und sich noch nicht einmal mehr für sie interessieren, solange sie ihn nicht blamierte. Aber in dem Restaurant hatte Evie immerhin den Eindruck, von Menschen umgeben zu sein, die sie schätzten – auch wenn sie in ihr nur die Promi-Queen sahen, die sie aus dem Fernsehen kannten.
Nachdem Evie sich mehr als zwanzig Jahre lang unbedeutend gefühlt hatte, war ihr das Interesse und die Unterstützung, die ihr die Öffentlichkeit seit ihren Auftritten in der beliebten Reality-ShowMiss Knightsbridge entgegenbrachte, wie ein fantastischer Traum erschienen.
Doch dann hatte es nur einen einzigen dummen Ausrutscher von ihr gebraucht, und schon wurde ihr die Unterstützung wieder entzogen.
Chester fummelte an seinem Mini-PC herum, bis der Clip den ganzen Bildschirm einnahm und in maximaler Lautstärke lief.
„Nein, deine Sendung sehe ich mir ganz bestimmt nicht an“, höhnte die tiefe Stimme ihres Vaters. „Ich habe nicht das geringste Bedürfnis, dir dabei zuzusehen, wie du dich im Fernsehen zum Gespött machst. Ich kann beim besten Willen nicht nachvollziehen, warum sich die Leute dafür interessieren, wie du deine Zeit verplemperst.“ Es entstand eine Pause, weil ihr Vater