: Yusuf Ye?ilöz
: Der Libellenspiegel Roman
: Limmat Verlag
: 9783038552857
: 1
: CHF 17.70
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 200
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Dass Sahar ein Kind mit einem Mann hat, mit dem sie nicht verheiratet ist, ist für ihre Familie unerhört. Auf dem Papier ist sie mit ihrem Cousin Beyto verheiratet. Dass Beyto schwul ist, erfuhr Sahar erst nach der Zwangsheirat, nach der Beyto nach London geflohen war.? Sahar kämpft dafür, dass ihre Tochter Amal und deren Vater, ihr Partner Michael, von der Familie anerkannt werden. Als sie für Michael eine Hose in der Änderungsschneiderei Messo abholt, lernt sie die Schneiderin Juana kennen. Verlust und das Tabuthema Homosexualität prägen auch ihre Familiengeschichte. In ihren Gesprächen helfen die beiden Frauen einander dabei, sich aus erstarrten Strukturen zu lösen und den Tabus die Macht zu nehmen.? Nach «Hochzeitsflug» und «Die Wunschplatane» nimmt «Der Libellenspiegel» die Perspektive der Frauen ein und erzählt von ihrem Mut und der Kraft von Freundschaften.

Yusuf Ye?ilöz, geboren 1964 in einem kurdischen Dorf in Mittelanatolien, kam 1987 in die Schweiz. Heute lebt er mit seiner Familie in Winterthur und arbeitet als freier Autor, Übersetzer und Filmemacher. Seine Bücher wurden mehrfach ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. Sein Roman «Hochzeitsflug» wurde 2020 von Gitta Gsell unter dem Titel «Beyto» verfilmt.

Sahar stand vor dem Laden und warf einen scheuen Blick durch das blank geputzte Schaufenster der Änderungsschneiderei Messo.

«Für den Kinderwagen gibt es in diesem winzigen Raum keinen Platz. Der ist ja nicht größer als drei Gräber», flüsterte sie vor sich hin. Sie hob den Vorhang aus dünnem weißem Tuch vom Kinderwagen weg. Ihre Tochter Amal schlief tief, sie lag auf der Seite, die kleine Handfläche auf ihrer runden Wange. Sahar lächelte, stellte den Wagen vor dem Laden ab und ging durch die knarrende blaue Tür hinein. Erst auf den zweiten Blick entdeckte sie die junge Frau, die hinter einer Nähmaschine saß. Sahar begrüßte sie mit einem «Grüezi». Die Frau stand auf, hielt ihre Hand an den Rücken und stöhnte leise, dann streckte sie sich und flüsterte ein «Grüezi wohl».

Sahar suchte die passende Formulierung in deutscher Sprache, um zu sagen, dass sie die Hose, die sie zum Kürzen hier abgegeben hatte, abholen und bezahlen wolle. Die Worte hatte sie auf dem Weg hierhin geübt, aber sie war noch unentschlossen, ob sie «mein Mann» oder «mein Freund» sagen sollte. Da meldete sich die Schneiderin, deren ovales Gesicht ein Nasenpiercing zierte.

«Wie kann ich Ihnen helfen?»

«Ein Mann hat hier eine Hose. Ich will sie abholen.»

«Ein Mann? Wie heißt er?»

«Michael.»

Sie holte den grünen Abholzettel aus ihrer schwarzen ledernen Umhängetasche und reichte ihn der Schneiderin. Diese nahm ihn entgegen, studierte die Nummer und ging die Zettel durch, die an den Kleidern über ihrem Arbeitstisch steckten. Noch bevor sie fündig wurde, kam ein leicht untersetzter Mann mit einem grauen, breiten Schnauzbart aus dem hinteren Raum hervor, begrüßte die Kundin mit einem Kopfnicken und fragte die Schneiderin, worauf die werte junge Frau warte.

«Eine Hose», gab sie knapp zur Antwort. Sie reichte ihm den grünen Zettel. Der Mann holte seine Lesebrille aus der Brusttasche des karierten Hemdes und betrachtete den Zettel genau, als würde er eine große Banknote auf Fälschung prüfen.

«Das ist die Hose, bei der du ein Hosenbein kürzer als das andere gemacht hast», flüsterte er.

«Was soll ich ihr jetzt sagen?»

«Warte kurz, ich schaue sie mir nochmal an.»

Der Mann warf einen missbilligenden Blick auf die Schneiderin und verschwand in den hinteren Raum. Als die Schneiderin Sahar bat, einen Moment zu warten, sagte sie, dass sie alles mitbekommen habe.

Das hellbraune Gesicht der Schneiderin färbte sich rot. Sie entschuldigte sich für den Fehler. Sie habe die Hose falsch gekürzt, als der Meister Messo gestern Nachmittag weg gewesen sei, um mit Freunden Domino zu spielen.

«Übrigens, ich bin Juana. Wie heißt du?»

«Ich heiße Sahar. Michaels Mutter hat mich aber nach der Geburt meiner Tochter Amal Sara genannt, weil sie fand, dass Sahar zu fremd klinge. Du kannst mich nennen, wie du willst.»

«Sahar gefällt mir. Das bedeutet Morgenröte oder Morgendämmerung.»

Sahar machte große Augen und hätte fast ihre Zunge verschluckt vor Erstaunen darüber, dass diese Frau die Bedeutung ihres Namens auf Anhieb wusste.

Juana, der Sahars perplexer Blick nicht entgangen war, erklärte, dass ihr Vater ihr immer wieder Lieder vorgesungen habe, in denen der Name vorgekommen sei. Die Morgendämmerung, der Beginn eines neuen Tages, sei der Inbegriff von Hoffnung, habe ihr Vater immer gesagt.

«Du bist die zweite Juana, die ich in meinem Leben kennengelernt habe. Die Hebamme bei der Geburt meiner Tochter nannte sich auch Juana, und ihre Haare waren rötlich-blond wie eine Orange. Sie sagte aber, dass dies nicht ihr richtiger Name sei, als sie die Geburtsunterlagen unterschrieb.»

«Ich heiße tatsächlich so, auch wenn dieser Name nicht zu meinem Aussehen passt. Er war der erste Kompromiss meiner eigensinnigen Eltern, die so unterschiedliche Charaktere hatten wie Tag und Nacht.»

«Wie haben sie dann überhaupt zueinander gefunden?»

«Die Liebe mache blind, sagten sie, wenn ich sie fragte.»

Sahar nickte und sah sich im Laden um.

«Und lernst du das Schneiderhandwerk neu?»

Juana seufzte.

«Ja, ich muss vorübergehend irgendetwas arbeiten. Ich warte darauf, dass meine drei Jahre Studium im Ausland anerkannt werden, damit ich hier weitermachen kann, ein ziemlich langer und aufwendiger Prozess. Ich bin seit drei Wochen hier und schon in der ersten Woche habe ich alles falsch gemacht. Messo muss seither viele böse Reklamationen entgegennehmen. Es steht nun in den Sternen, wie es mit meiner Arbeit hier weitergeht.»

«Mach dir keine Sorge wegen Michaels Hose. Er trägt sie sowieso immer zu kurz, er wird dir sogar dankbar sein.»

Juana lachte.

«Jetzt erinnere ich mich an ihn. Als er hier war, fragte Messo im Scherz, ob der Hochwasserhosenmann einen Fluss überqueren wolle.»

«Davon hat mir Michael erzählt. Aber ich möchte ihn jemandem von meiner Familie vorstellen und er versprach mir, dafür eine lange, gebügelte Hose zu tragen, die bis über die Knöchel reicht. Darum hat er sich diese Hose gekauft, aber sie war ihm zu lang.»

«Du hast ein Kind mit ihm und deine Familie kennt ihn noch nicht?»

«Das ist eine lange Geschichte, Schwester, so schnell kann ich dir das nicht erklären.»

Juana betrachtete Sahar genau.

«Deine Stimme ist weich wie Baumwolle, Sahar, und du bist so schön wie der Mond. Tu nur das, was du selbst für richtig hältst, ich bin einfach ein neugieriger Mensch, wie alle anderen auch.»

Messo kam aus dem hinteren Raum hervor. Er machte ein Regenwettergesicht.

«Die Hose kann ich nicht retten. Sie können Ihrem Mann sagen …»

Juana unterbrach ihn.

«NichtIhrem Mann,dem Mann.»

«Egal, sagen Sie ihm einfach, dass ich die Hose bezahlen werde. Seit dreiunddreißig Jahren führe ich dieses Geschäft und zum ersten Mal muss ich mich für meine Arbeit schämen. Und das nur dank dieser kleinen Lehrlingsfrau!»

«Du kannst mich entlassen, Onkel Messo, und die Hose von meinem Lohn abziehen!»

«Du weißt genau, dass ich das nicht kann. Ich habe kein so hartes Herz, das dir, der Tochter meines besten Freundes – möge er in Frieden ruhen und von Lichtern in allen Farben umgeben sein –, die Tür weisen könnte. Und wenn du von dir aus gehst, werde ich dich nicht aufhalten, aber traurig werde ich trotzdem sein. Ich habe dich ja nur angestellt, damit du mir den Faden durchs Nadelöhr führst. Mehr wollte ich nicht von dir.»

Juana wandte sich der Arbeit zu, oder tat jedenfalls so, als würde sie zwei dunkelblaue Stoffstücke zusammennähen. Messo drehte sich zu Sahar.

«Die Kleine hier hat im Ausland studiert, bevor sie abgebrochen hat und zurückgekehrt ist. Sie wollte Biologin werden und in einem Zoo arbeiten. Mädchen, wenn du nicht aufpasst, werden die Tiere dich jeden Tag beißen. Lerne zuerst, ordentlich mit der Nadel in den Stoff zu stechen, bevor du Löwen, Schlangen und Hühner impfst.»

Juana sprach, ohne ihren Kopf zu heben.

«Das wird wohl nie geschehen. Das Studium mache ich allerdings fertig, das habe ich meinem Vater versprochen. Sonst wird er sich im Grab umdrehen.»

Sahar schaltete sich ein.

«Wann und warum hast du ihm das versprochen?»

«Ich muss dir die ganze Geschichte erzählen.»

«Ich habe Zeit.»

Sahar warf einen Kontrollblick auf den Kinderwagen vor der Schneiderei. Amal schien immer noch zu schlafen.

«Und wenn dein Kind aufwacht?»

«Dann hören wir auf zu reden.»

«Diese Geschichte ist kompliziert und vielfältig wie die Farben einer Wildwiese.»

«Jetzt mach es nicht so spannend!»

«Bei uns pflegte man zu sagen: ‹Ein Irrer hat einen Stein in den Brunnen geworfen und vierzig Kluge sind damit beschäftigt, diesen herauszuholen.› Dieser Spruch passt zu meiner Lebensgeschichte.»

Messo unterbrach die jungen Frauen, um aufzulisten, was Juana alles falsch gemacht habe. Vom dunkelblauen Sakko des pensionierten Richters Theodor Meilinger habe sie zwar die Ärmel richtig gekürzt, aber zum Nähen den Faden in einer unpassenden Farbe gewählt. Meilinger, weit über siebzig Jahre alt, achte sehr auf sein Aussehen. Er habe laut geschrien, dass er Richter gewesen sei, kein Kapitän. Messo arbeite noch daran, mit ihm eine Einigung zu finden, was sich schwierig gestalte. Und Cornelia Celans Bluse aus den Fünfzigerjahren, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, habe Juana enger gemacht, anstatt sie wie gewünscht drei Zentimeter auszuweiten. Cornelia habe wie...