Enni
»Romeo hätte ja wohl auch nicht mal eben seine Mailbox gecheckt, während Julia vor ihm an der Balkonbrüstung stand.«
Der Typ auf dem Platz schräg gegenüber beobachtet mich. Ich kann dank der Spiegelung im Zugfenster genau sehen, wie er immer wieder verstohlen eine Strähne seines dunklen Haars zurückschiebt und in meine Richtung schaut.
Das tut er schon seit einer Dreiviertelstunde, angesprochen hat er mich allerdings bisher nicht. Während ich vorgebe, die zunehmend bergige Landschaft zu betrachten, die vor dem Fenster vorbeifliegt, ringe ich mit der Überlegung, einfach selbst die Initiative zu ergreifen. Der Typ ist süß. Es gefällt mir, wie er so tut, als würde er mich gar nicht beobachten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich seine Blicke nicht fehlinterpretiere. Was habe ich also zu verlieren?
Aber irgendwie gefällt mir der Gedanke, ihn einfach so anzusprechen, nicht. Es gibt auch nicht wirklich etwas, was ich sagen könnte, ohne dass es nach einer plumpen Anmache klingt. Und das würde alles ruinieren, das ganze subtile, aufregende Kribbeln dieser Situation.
Wieder dreht er kaum merklich den Kopf.Jetzt komm schon, trau dich – aber bitte ohne einen platten Spruch. Wobei er nicht wie jemand aussieht, der auswendig gelernte Flirtsprüche draufhat. Eher der Typ Dichter und Denker mit seinem langen Haar und den Klamotten, die ein bisschen an eine Internatsschuluniform erinnern. Nur dass er dafür zu alt ist. Und dass er die Krawatte so locker gebunden hat, dass sie definitiv ein Modestatement und keine lästige Notwendigkeit ist.
Er sieht wieder weg und innerlich seufze ich. Wir sind mittlerweile fast allein in diesem Abteil. In Augsburg hat der ICE sich merklich geleert und jetzt sind wir nur noch eine Haltestelle von München entfernt, wo ich dank Verspätung keine zehn Minuten mehr habe, um in die S-Bahn nach Herrsching umzusteigen. Also jetzt oder nie.
Doch keiner macht den ersten Schritt.
Ich zögere das Aufstehen so lange hinaus wie möglich. Aber irgendwann habe ich keine andere Wahl mehr. Der Zug bremst bereits merklich ab und ich muss noch meinen gigantischen Koffer aus der Gepäckablage hieven. Oder den Typen fragen, ob er das für mich erledigt. Aber ich mag dieses Jungfer-in-Nöten-Klischee nicht. Entweder er bietet seine Hilfe wenigstens von sich aus an oder ich werde das Ungetüm eben