Die klassische Wiedergeburt
Die Renaissance war sicher keine »Wiedergeburt« der Kultur, aber eine Zeit tiefgreifender Veränderungen und neuer Möglichkeiten. Kunst und Wissenschaft des klassischen Altertums, darunter auch die botanischen Schriften des Theophrast und des Dioskurides, wurden neu entdeckt und ausgewertet. Diese Heilkräuterkunde wurde mit der Lehre von den Signaturen der Planeten, also der Astrologie, aufs Neue verbunden. Die Erfindung der Druckkunst machte die Buchvervielfältigung zu einem rentablen Unternehmen. Neben der Bibel waren es vor allem die Kräuterbücher, die Interesse erweckten. Dazu brachten die Portugiesen und spanischen Konquistadoren unbekannte neue Pflanzen, Kräuter und Gewürze aus den neuentdeckten Erdteilen mit.
Konstantinopel wurde von den Türken eingenommen – fliehende byzantinische Gelehrte trugen ihre Lehren und Gedanken in den vom Dornröschenschlaf erwachenden Westen. Hervorragende jüdische Ärzte lehrten in Salerno und in Spanien – ehe sie 1492 von dort vertrieben wurden – und brachten nüchterne, rationelle, sogar mechanistische medizinische Theorien zur Geltung. Die Zigeuner – etwas indische Würze in dem brodelnden Brei – tauchten erstmals in Europa auf. Die Seereisen des Vasco da Gama, des Christoph Kolumbus und des Ferdinand Magellan, die Dekadenz der Kirche, der Aufstand der Protestanten und vieles andere brachten die Kultur des hohen Mittelalters zum Siedepunkt: Die Welt wurde aus den Angeln gehoben, das feste Weltgefüge begann zu wanken. Wo konnte man da Gewissheit und Sicherheit finden? Unter den führenden Geistern entbrannte der Kampf um die Richtung, in die zu gehen war. Ein Kirchenlied aus der Zeit gibt die Stimmung wieder:
Ach Gott, es geht gar übel zu,
Auf dieser Erd ist keine Ruh,
Viel Sekten und groß Schwärmerei
auf einen Haufen kommt herbei.
Den stolzen Geistern wehre doch,
Die sich mit Gwalt erheben hoch
Und bringen stehts was Neues her,
Zu fälschen deine rechte Lehr.
Nikolaus Seinecker (1572)
Die Protestanten (Luther, Zwingli und der Ayatollah Chomeini der Reformierten, Jean Calvin) suchten den sicheren Boden im Wort Gottes – in der schriftlichen Offenbarung. »Heiden« wie Paracelsus suchten in dem anderen Buch, in dem sich Gott der Menschheit offenbart: im Buch der Natur. Giordano Bruno suchte in den Sinnen, die Neuplatoniker – Agrippa von Nettesheim, Ficino, Trithemius – in okkulter Hochmagie, andere wiederum in einer kontrollierten Beobachtung und den Zwängen der Logik, was sich zur Experimentalwissenschaft späterer Epochen entwickelte. Es war eine belebte Zeit, voller Widersprüche und Übertreibungen.
Das traf auch auf die Heilkunde zu. Gegen die neuen Schrecken, die über die Europäer hereinbrachen, die Pest und die »Franzosenkrankheit« (Syphilis), war das alte System des Galenus und des Avicenna (ein persischer Verfechter galenischer Ideen) hilflos. Man suchte nach neuen Mitteln und Heilverfahren, ebenso wie man nach neuen Handelsrouten suchte. Der schöpferischste Arzt seiner Zeit, Aureolus Theophrastus Bombastus von Hohenheim (1493 bis 1541), der sich selber Paracelsus nannte, wagte es, diesbezüglich die hehren Autoritäten anzuzweifeln, und scheute sich nicht, den Kräutersammlern in die Körbe zu schauen, Hexen, Zigeuner und Hirten