1. KAPITEL
So etwas hatte sie noch nie gesehen. Sie war steif von der langen Reise um die halbe Welt bis zur Nordspitze Australiens. Rötlicher Staub wehte Paige Cooper in die Augen. Doch selbst durch diesen Schleier war die Aussicht faszinierend. Die Straße führte mitten durch die Wüste. In den wenigen Bäumen hockten unzählige Kakadus majestätisch im Licht der Nachmittagssonne. Je länger Paige in dem eleganten schwarzen Geländewagen über Schlaglöcher und Steine fuhr, desto dichter wuchsen die Bäume und desto grüner war das Laub, bis die Kronen schließlich ein glänzendes Blätterdach bildeten. Ein süßlicher tropischer Duft nach Mangos und etwas Unbekanntem stieg ihr in die Nase.
Die bisher schnurgerade Straße begann sich zu schlängen. Hinter der Kurve lag dichter Wald, durch den hier und da blauer Himmel lugte. Schließlich bog der Fahrer um eine Kurve, und schlagartig blickte sie auf Wattle Bay. Das Meer glitzerte wie türkisfarbene Diamanten, schöner als auf jeder Postkarte. Paige dachte an Los Angeles und das Leben, das sie dort vor Jahren hinter sich gelassen hatte. Der Strand, der für alles stand, was sie vergessen wollte, ihre Eltern, die sie schlecht behandelt hatten. Dieser Strand aber wirkte anders. Urwüchsiger. Hier gab es keine Hochhäuser, keine Andenkenläden. Nur weißen Sand, kristallklares Wasser und so viele Bäume, dass Paige der Atem stockte.
Das Haus sah anders aus, als sie erwartet hatte. Die Stones gehörten immerhin zu den wohlhabendsten Familien der Welt. Paige hatte sogar selber einmal eine Diamantkette von Stone getragen. Obwohl sie erst zwölf gewesen war, hatte ihre Mutter ihr ein tief ausgeschnittenes Kleid und Schuhe mit schwindelerregend hohen Absätzen angezogen und ihr dazu den kostbaren Schmuck angelegt. Paige dachte mit gemischten Gefühlen und einem mulmigen Gefühl an die glamouröse Abendveranstaltung zurück. Genau wie an all die anderen unangenehmen Situationen, in die ihre Eltern sie manövriert hatten.
Das Stone-Imperium beruhte auf der Perlenzucht. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts züchtete die Familie Südseeperlen. Dieses Grundstück in Nordaustralien war ihr größtes Zuchtgebiet. Deshalb hatte Paige ein modernes und pompöses Gebäude erwartet, wie es die Reichen und Schönen in Los Angeles bewohnten. Stattdessen sah sie das Gegenteil vor sich. Mit ihren grünen Augen, deren Farbton dem der Tropenbäume glich, musterte sie das Haus. Freude keimte in ihr auf – eine Freude, mit der sie in dieser Wildnis nicht gerechnet hatte.
Oder war es Erleichterung? Seit einem Monat verließ sie sich auf ihren Instinkt. Ihre Eltern hatten vor einem Monat ein Enthüllungsbuch angekündigt und Paige war der kalte Schweiß ausgebrochen. Wurde sie die beiden denn niemals los? Obwohl sie sich noch als Teenager juristisch von ihren Eltern getrennt hatte, verfolgte deren manipulatives Verhalten sie noch immer. Interviewanfragen waren bei ihr eingetrudelt, und Presseleute hatten einem ihrer Schützlinge vor der Schule aufgelauert.