2. KAPITEL
„Hunter!“, rief Lily zum dritten Mal. Alle Stühle waren geräuschvoll weggestellt worden, doch nichts hatte ihn geweckt. Einen Moment lang dachte sie daran, einfach zu gehen und ihn am nächsten Morgen von den Putzfrauen wecken zu lassen. Aber ihr Herz gewann die Oberhand, und schließlich berührte Lily ihn an der Schulter. „Hunter, die Sitzung ist seit fünfzehn Minuten zu Ende.“
„So?“ Er streckte sich, stand auf und sah sich um, dann ging er ziemlich unsicher wirkend zu seinem Jackett und zog es an. „Kann ich einen Kaffee haben?“
„Die Maschine ist schon weggeräumt worden.“ Lily runzelte die Stirn über ihn. Er hatte eindeutig Schwierigkeiten, den Blick auf sie zu richten. Ihr angeborenes Durchsetzungsvermögen und ihre Ausbildung ermöglichten es ihr zum Glück, mit dieser möglicherweise schwierigen Situation selbstbewusst umzugehen. „Sind Sie fahrtüchtig? Wenn Sie getrunken haben, ist es vielleicht klüger, ein Taxi zu rufen.“
„Ich trinke nicht“, erwiderte Hunter.
„Überhaupt nicht?“
„Das habe ich probiert, und es hat mir nicht gefallen.“
„Wenn Sie etwas genommen haben, sollten Sie wirklich darüber nachdenken …“
„Ich nehme keine Drogen!“ Hunter bemerkte ihr besorgtes Stirnrunzeln und lächelte. „Es sei denn, eine Überdosis Koffein zählt auch. Mir geht’s gut, ich leide nur an Jetlag.“
„Jetlag?“
„Ich bin heute Morgen aus New York eingeflogen. Oder war es gestern?“ Er warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr. „Dort ist noch gestern.“
„Haben Sie seitdem geschlafen?“
„Gerade eben, da auf dem Sofa.“ Er zeigte in den Raum, den sie verlassen hatten. „Keine Sorge, ich komme schon klar. Glauben Sie wirklich, dass man etwas geschehen lassen kann, wenn man es sich in den Kopf setzt?“
„Bis zu einem gewissen Grad, ja“, erwiderte Lily. Obwohl er eingenickt war, hatte er mehr von der Sitzung in sich aufgenommen, als sie gedacht hatte.
„Auch, dass sich jeder bessern kann?“
„Natürlich. Außer wenn man schon perfekt ist.“ Ihr Sarkasmus entlockte ihm nur ein müdes Lächeln.
„Oh, ich bin alles andere als perfekt. Und ganz bestimmt küsse ich morgens nach dem Aufwachen nicht den Spiegel und sage mir, wie schön und wert, geliebt zu werden, ich bin.“
Jetzt neckte er sie, und wieder erkannte Lily, dass er die meiste Zeit zugehört hatte. „Ich küsse nicht den Spiegel, aber ja, ich bin dafür, das Selbstbewusstsein zu stärken.“
„Bis die wahre Liebe kommt, und dann kann er es für Sie tun?“ Hunter zog spöttisch die Augenbrauen hoch.
„Nein. Ich glaube nicht an die Liebe. Ich glaube an sinnliche Begierde. An Romantik. An gegenseitigen Respekt. Nicht an die große Liebe, die ein ganzes Leben lang hält.“
„Amanda wird sehr enttäuscht sein.“
„Das wird Amanda nicht von mir hören.“ Lily nahm an, dass das Gespräch beendet war und ging zur Tür, doch Hunter war noch nicht fertig.
„Was ist mit jemandem, dem die Ärzte sagen, er würde nie wieder laufen können? Wollen Sie wirklich behaupten, dass er es sich nur in den Kopf setzen muss …?“
„Ich biete keine Wunder an, Hunter“, antwortete Lily freundlich, denn der spöttische Ton war aus seiner Stimme verschwunden, und sie spürte zum ersten Mal echte Verwirrung hinter seinen Worten. „Wenn sich jemand in dieser Situation allein darauf konzentriert, zu beweisen, dass sich die Ärzte irren, versäumt er viele andere Gelegenheiten. Vielleicht ist es besser, wenn er seine Energie für andere Ziele verwendet.“
„Aufgeben, meinen Sie?“
„Ich nenne es lieber akzeptieren.“
„Mit solchen Ratschlägen verdienen Sie wohl Ihren Lebensunterhalt“, erwiderte Hunter spitz.
Lily brachte das nicht aus der Fassung, weil sie wusste, dass seine Wut nicht gegen sie gerichtet war. „Über wen sprechen wir hier eigentlich?“
„Niemanden. Das war nur eine hypothetische Frage.“ Er öffnete die Tür, dann zog er sein Jackett aus und hielt es Lily hin. „Wollen Sie es sich ausleihen?“
„Ihr Jackett?“
„Es gießt in Strömen.“
„Nein danke.“ Lily lächelte bei der Vorstellung, ein Kleidungsstück im Wert mehrerer tausend Dollar als Behelfsschirm zu benutzen. Plötzlich bedauerte sie es, dass sie den Mann nie wiedersehen würde, wenn er erst einmal draußen war. Was ihre Gruppe zu bieten hatte, war nicht das, was er brauchte. Noch immer wollte sie gern wissen, warum er überhaupt gekommen war. Hunter Myles faszinierte sie. Er war so total selbstsicher, so atemberaubend überheblich und dann wieder – Lily sah das Jackett an – entwaff