Im September 2019 veröffentlichte der deutsche Journalist Sebastian Steinbeis eine faszinierende Dystopie mit realpolitischem Fundament. Auf dem von ihm begründetenVerfassungblog erschien der Text »Ein Volkskanzler«24. Darin skizzierte er den Umbau einer liberalen Demokratie in ein totalitäres System modernen Zuschnitts. Das Besondere an seinem Gedankenexperiment: Steinbeis beschrieb den Systemwechsel nicht anhand eines extremen Ausnahmezustandes, wie ihn zum Beispiel ein Putsch darstellt. Vielmehr lieferte er eine Gebrauchsanweisung zur postdemokratischen Instrumentalisierung von verfassungsrechtlichen Spielräumen. Oder einfacher ausgedrückt: Er identifizierte die sogenannten »Gummiparagrafen« und zeigte auf, wie man sie durch exzessive Dehnung pervertiert. Und zwar unaufgeregt, fundiert, ohne emotionale Wertung – genau das machte den Beitrag so furchteinflößend. Auch kulturpolitisch ist der Text von enormer Bedeutung. Indem Kunst und Kultur nicht nur »system-relevante«, sondern systemimmanente Bestandteile der Demokratie sind, müssen sie in allen diesbezüglichen Diskussionen mitbedacht werden. Steinbeis’ Gedankenexperiment einer Demokratie-Ausschaltung ist gleichzeitig ein Gedankenexperiment der Kulturausschaltung.
Exakt vier Jahre später, im September 2023, führte dieFALTER-Journalistin Barbara Tóth den Text von Sebastian Steinbeis mit einem eigenen Artikel in den österreichischen Politdiskurs ein. Sie wählte dafür einen sehr passenden Zeitpunkt. Herbert Kickl, Obmann der rechtspopulistischenFPÖ, konnte in den Wochen rund um die Erscheinung mit formidablen Umfragewerten punkten. Er führte den Höhenflug, wahrscheinlich zu Recht, auf seinen radikalen Kurs als Kurzzeitinnenminister in der Bundesregierung Sebastian Kurz I und als Oppositionspolitiker in der Corona-Pandemie sowie auf eine extrem rechte Migrations- und Justizpolitik zurück. In den diesbezüglichen Auseinandersetzungen hatte er sich selbst als »Kanzler aus dem Volk für das Volk