Prolog
Im Alter von neun Jahren – es war im Juni 1804, am zweiten Tag ihres ersten Besuches in Chase Park – hörte sie, wie eins der Zimmermädchen aus dem oberen Stockwerk Tweenie verkündete, sie sei ein »Bankert«.
»Ein Bankert? Was erzählst du da? Du bindest mir einen Bären auf, Annie! Das Püppchen ein Bankert? Alle erzählen doch, sie sei eine Cousine aus Holland oder aus Italien, was weiß ich.«
»Eine Cousine aus Holland oder Italien, meiner Treu! Ihre Mutter lebt in der Nähe von Dover – und das ist alles, was sie von der Welt gesehen hat. Seine Lordschaft besucht sie, sooft er kann, das habe ich jedenfalls von Mrs. Emory gehört, als sie es dem Koch erzählte. Ja, ja, sie ist die uneheliche Tochter seiner Lordschaft. Ja! Sieh dir doch nur ihre Augen an, blauer als die Punkte auf einem Rotkehlchenei.«
»Daß seine Lordschaft die Stirn besitzt, seine Brut unmittelbar vor ihrer Ladyschaft Nase aufkreuzen zu lassen!«
»So ist das nun einmal in diesen Kreisen. Seine Lordschaft hat wahrscheinlich eine Handvoll Bankerte. Was ist schon einer mehr oder weniger? Aber diese hier, diese Kleine, ist etwas Besonderes. Ja. Sie ist süß und fröhlich. Ein kleiner Sonnenschein. Mir kommt es so vor, als ob sie schon immer hiergewesen wäre. Ihre Ladyschaft wird das kleine Püppchen links liegenlassen, du wirst schon sehen. Wie ich gehört habe, bleibt sie nur vierzehn Tage zu Besuch.«
Annie schniefte und schob den nun geleerten Nachttopf auf die andere Hüfte. »Das hat er noch nie getan. Hat der Mensch Töne, bringt der Graf seinen Bastard nach Chase!«
»Aber sie ist bildhübsch, die Kleine.«
»Ja, und seine Lordschaft sieht so prächtig aus wie sein Großvater. Meine Großmutter erzählte immer, seine blendende Erscheinung habe einem den Atem genommen, also ist es ganz natürlich, daß die Kleine keine Vogelscheuche ist, und ich wette, ihre Mom ist auch keine graue Maus. Zwölf Jahre, habe ich von Mrs. Emory gehört, waren sie zusammen, wie ein verheiratetes Paar, nur daß sie nicht verheiratet waren. Ein Jammer ist das.«
Das Zimmermädchen und Tweenie entfernten sich und tuschelten hinter vorgehaltener Hand weiter. Sie stand da, im Schatten einer der vielen kleinen Nischen im Korridor des ersten Stockwerks, und fragte sich, was wohl ein Bankert war. Bestimmt nichts Gutes, soviel hatte sie mitbekommen.
Der Graf von Chase war ihr Vater? Allein bei diesem Gedanken schüttelte sie heftig den Kopf. Nein, er war ihr Onkel James, der ältere Bruder ihres richtigen Vaters, der sie und ihre Mutter mehrere Male im Jahr besuchte, um sich von ihrem Wohlergehen zu überzeugen. Nein, ihr richtiger Vater wurde im Februar 1797 von den Franzosen umgebracht, als die französischen Truppen auf englischem Boden landeten. Von ihrer Mutter konnte sie die Geschichte nicht oft genug hören: von den zweitausend Franzosen, die keine Soldaten waren, sondern französische Verbrecher, denen man Straferlaß versprochen hatte, wenn sie den Avon hinauffuhren und Bristol in Brand setzten. Dann sollte Liverpool an die Reihe kommen. Ah, pflegte ihre Mutter dann immer zu sagen, aber diese französischen Verbrecher landeten in Pencaern und wurden von den Pembrokeshire Yeomen in Schach gehalten und besiegt. Und ihr Vater hatte diese tapfere Schar Engländer angeführt, die die nichtswürdigen Franzosen schlugen, weil sie es gewagt hatten, den Fuß auf britischen Boden zu setzen. Nein, ihr richtiger Vater war Captain Geoffrey Cochrane, und er starb den Heldentod für England.
Die Augen ihrer Mutter verschwammen und wurden tiefblau, wenn sie sagte: »Dein Onkel James ist ein Edelmann, mein Liebes, ein sehr mächtiger Mann, ein Mann mit viel Verantwortung, der sich stets um uns kümmern wird. Er hat eine eigene Familie und kann daher nicht sehr oft zu uns kommen: so liegen die Dinge nun einmal, und daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Aber vergiß nicht, er liebt uns und wird uns nie im Stich lassen.«
Als sie neun Jahre alt war, hatte ihre Mutter sie für vierzehn Tage auf Besuch zu Onkel James in sein prachtvolles Haus geschickt, das Chase Park hieß und bei Darlington im Norden von Yorkshire lag. Sie hatte die Mutter angefleht, sie solle sie begleiten, aber die Mutter hatte ihr diesen Wunsch mit einem energischen Kopfschütteln abgeschlagen. Dabei wippten ihre wunderschönen goldenen Locken, die das ebenmäßige, zarte Gesicht umrahmten. »Nein, mein Herz, die Frau deines Onkel James ist nicht gut auf mich zu sprechen. Halte dich von ihr fern, versprichst du mir das? Du hast dort genügend Cousins und Cousinen und wirst dich mit ihnen anfreunden. Aber meide Onkel James’ Frau. Und vergiß nicht, mein Liebes, erzähl niemals etwas über dich. Das ist viel zu langweilig. Das verstehst du doch? Es ist viel besser, nicht alles auszuplaudern und Gehei