Ein Toter in der Nacht
Die Scheibenwischer des alten CitroënsXM kamen nur ruckelnd gegen die Schneeflocken an, die aus dem Nachthimmel herabrieselten und eine dichte Schicht auf der Windschutzscheibe bildeten. John Benthien, erster Hauptkommissar der Flensburger Kriminalpolizei, hatte die Scheibe nur notdürftig freigekratzt, für mehr war keine Zeit gewesen. Er stellte den Wischerhebel auf höchste Stufe und folgte langsam der verschneiten Hafenstraße in Richtung des Lister Hafens. Links und rechts lagen die Häuser noch im Dunkeln. Der Schnee hatte sich wie eine Haube aus Zuckerwatte auf die Reetdächer gelegt.
Der Anruf aus dem Präsidium in Flensburg hatte ihn vor einer Viertelstunde um kurz vor fünf Uhr erreicht. John hatte in seinem alten Friesenhaus in den Lister Dünen neben dem prasselnden Kamin auf dem Sofa gesessen und in einem Buch gelesen. Wie so oft in den vergangenen Wochen hatte er nicht schlafen können. Einer Legende nach gab es, was die Nachtruhe betraf, lediglich zwei Arten von Menschen: Die einen taten auf Sylt grundsätzlich kein Auge zu, während die anderen wie die Murmeltiere schliefen. John hatte nie an solches Seemannsgarn geglaubt, schließlich war er auf der Insel aufgewachsen und hatte sämtliche Zwischenstadien erlebt. Doch in letzter Zeit wachte er mitten in der Nacht auf und konnte partout nicht mehr einschlafen. Vielleicht lag es am Alter, die fünfzig rückten unaufhaltsam näher.
Nach dem Telefonat mit dem Präsidium hatte er sich schnell Hose und Jacke angezogen. Von dem alten Kapitänshaus, das er sich mit seinem Vater Ben teilte, waren es weniger als zwei Kilometer bis zum Lister Hafen. Bei diesen Wetterverhältnissen aber kam er nur im Schneckentempo voran. Zum Glück waren ansonsten keine Autos auf der Straße.
Im Autoradio, das noch ein Kassettenfach hatte, endeten gerade die Nachrichten. Ein Sturmtief hing seit knapp einer Woche über der Nordsee zwischen zwei Hochs fest, eine Blockadelage, die auch in den kommenden Tagen Nordfriesland und die Inseln mit Schnee, Eis und Wind überziehen würde. Alle Fährverbindungen waren eingestellt, ebenso der Zugverkehr über den Hindenburgdamm, und an einen geregelten Flugverkehr war nicht zu denken. Sylt blieb wie Amrum und Föhr vorerst vom Festland abgeschnitten.
Eigentlich keine schlechte Sache, dachte John. Die übliche Invasion der Festtagsgäste würde vielleicht ausbleiben und das Weihnachtsfest wirklich ein besinnliches werden.
Er spürte, wie er zu zittern begann, und schob den Heizungsregler auf Maximum. Doch es kam nur lauwarme Luft aus dem Gebläse. Der betagte Motor brauchte schon unter normalem Witterungsbedingungen viel zu lange, um warm zu werden. Vermutlich konnte John froh sein, dass er überhaupt angesprungen war.
Das Wetter drohte auch seine Festtagsplanung durcheinanderzuwirbeln. Noch eine Woche bis Weihnachten, und er wollte Heiligabend mit seiner Tochter Celine und seinem Vater hier auf der Insel verbringen. Ben war vorgestern mit einem der letzten Züge angekommen. Ob Celine es unter den derzeitigen Umständen ebenfalls hierher schaffen würde, war mehr als fraglich.
Obwohl sie mittlerweile volljährig war und bestens allein klarkam, bedauerte John inzwischen, dass er nicht bei ihr in Flensburg geblieben war. Er musste Überstunden abfeiern und hatte die freien Tage dazu nutzen wollen, das Kapitänshaus auf Vordermann zu bringen und alles für gemütliche Festtage mit seinen beiden liebsten Menschen herzurichten.