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Es fühlte sich nicht richtig an.
Urbain Cluzet saß am Fenster und scrollte auf dem Tablet durch die ersten Nachrichten des Tages. Die schweren, grünen Vorhänge vor den hohen Fenstern waren bis auf einen Schlitz gegen die Morgensonne geschlossen. Tiefschwarzer, zuckerreicher Kaffee dampfte auf dem kleinen runden Tisch mit der Messingplatte, in die das Hoheitszeichen Frankreichs geprägt war. Die Tasse vibrierte gefährlich, als ein Bus an dem Pariser Stadthaus vorbeifuhr.
In der Luft hing noch der Geruch der warmen Zimtröllchen, die Cluzet sich jeden Morgen gönnte. Trotzdem fühlte er sich heute unwohl in seinem grünledernen Ohrensessel. Die Lokalzeitung berichtete auf Seite drei, dass der »Knurrer« die Kriminalpolizei in den Ruhestand verlassen hatte. Verbunden mit der Frage, wer all die großen und kleinen Verbrecher jetzt in Schach halten sollte.
Als »Knurrer« hatte Cluzet es zu einiger Prominenz gebracht. Über zwei Jahrzehnte hatte er als Garant dafür gegolten, dass im 1. Pariser Arrondissement, rund um die Île de la Cité, dem Palais du Louvre und dem Tuileriengarten kaum ein Verbrechen ungesühnt blieb. Nicht immer war er dabei ganz kritiklos davongekommen. Insbesondere, wenn die Journaille geglaubt hatte, dass mal wieder ein paar Taschendiebe viel zu milde davongekommen waren. Weil Cluzet den meist minderjährigen Tätern vor Gericht trotz allem eine gute Allgemeinprognose ausgestellt hatte. Dass er die Not der Jugendlichen erkannt und sie in einem Projekt untergebracht hatte, in dem sie eine fundierte Ausbildung erhielten, hatte Cluzet dabei nie an die große Glocke gehängt. Dafür feierte ihn die Presse, als er einige Schwerverbrecher geschnappt hatte.
Cluzet hatte mit dieser Art von Prominenz nichts anfangen können. Anfragen zu Interviews hatte er grundsätzlich abgelehnt. Und die wenigen Male, bei denen ihm auf den Treppen des Justizpalastes ein Mikrofon ins Gesicht gehalten worden war, hatte er nur Unverständliches geknurrt.
Was ihm seinen Spitznamen eingebracht hatte.
Der Knurrer.
Der jetzt in den Ruhestand gegangen war.
Cluzet nahm die Aufmerksamkeit der Presse mit leichtem Erstaunen zur Kenntnis. Erst vor drei Jahren war er vom Ersten Hauptkommissar zum Polizeirat befördert worden und hatte seither den Titel des »Commissaire de Police« getragen. Damit verbunden war der Wechsel herunter von der Straße, hinein in die Organisation und Koordination von Einsätzen. Es war, zumindest in der Öffentlichkeit, ruhiger um ihn geworden. Er hatte gedacht, dass man seiner Pensionierung wenig Aufmerksamkeit schenken würde.
Cluzet schloss die Apps auf dem Tablet und trug es zur neoklassizistischen Anrichte aus Nussbaumholz, die Ende des 19. Jahrhunderts den Weg in die Familie seiner Frau gefunden hatte. Wie auch die übrige Einrichtung des Wohnzimmers. Eine mehrmals neu aufgepolsterte, samtbezogene Sitzgruppe, bestehend aus Couch und zwei Sesseln sowie einem Chaiselongue. Gemälde mit Motiven aus der Seefahrt in schweren, dunklen Rahmen. Nur die Satintapete mit royalem Lilienmuster war über die Zeit mehrfach erneuert worden.
Cluzet hatte dabei sogar selbst mit Hand angelegt. Und die Kritik an den zwei Falten mitten auf der Wand zur Küche einfach weggeknurrt.
Die verglaste Tür der Anrichte knarrte, als Cluzet sie öffnete und wieder schloss, nachdem er das Tablet im Halter neben der Erstausgabe von Jean-Jacques Rousseaus »Die Kunst zu leben« platziert hatte. Das letzte Buch, das seine Frau ihm geschenkt hatte.
Sein graues Haar spiegelte sich wirr in der Glasscheibe. Er strich die widerspenstigen Strähnen glatt. Dann zog er den Gürtel seines braunen Morgenmantels enger um den ausladenden Bauch. Im Flur steckte er die Füße in graue Filzpantoffeln und verließ die Wohnung.
Als er im Treppenhaus im Erdgeschoss den Briefkasten öffnete, fielen ihm lediglich ein paar Prospekte entgegen. Die meisten priesen Reisen in ferne Länder an, die Cluzet nur ein amüsiertes Schnauben entlockten. Er wusste doch längst, wo er seinen Sommerurlaub verbringen würde. Wie jedes Jahr in Auciel Haute, seinem Geburtsort in der Normandie. Kein anderer Ort auf der Welt konnte ihm auch nur annähernd bieten, was …
Ein Klopfen an der Glasscheibe der Eingangstür riss Cluzet aus seinen Gedanken.
Eine attraktive Frau Anfang dreißig winkte ihm zu und deutete auf die Türklinke. Sie hatte langes,