EINS
Wien, Herbst 1925
»Gott sei Dank scheint endlich wieder die Sonne!« Die pensionierte Lateinlehrerin Ernestine Kirsch trat in den Garten und atmete tief durch. Die Luft fühlte sich sauber an. Der Regen der letzten Tage hatte den Ruß und Staub von den Fassaden gewaschen und Wien in eine strahlende Stadt verwandelt. Satt gelb und leuchtend rot glänzten die Blätter der Weinreben an der Hausmauer im warmen Licht und versprachen einen goldenen Herbsttag.
»Ich hatte schon befürchtet, das Nieselwetter hält bis Allerheiligen an. Es reicht, wenn der Nebel im November einsetzt. Der Winter dauert danach noch lang genug. Können wir im Freien frühstücken?« Anton streckte den Kopf zur Terrassentür heraus. Er und Ernestine bewohnten seit einem Jahr das kleine, frisch renovierte Kutscherhäuschen im Garten seiner ehemaligen Apotheke in Mariahilf. Seit Antons Pensionierung leitete seine Tochter Heide das Geschäft.
Allerdings würde Anton in naher Zukunft wieder einspringen müssen, denn Heide erwartete nach Weihnachten ihr zweites Kind. Kurz nachdem sie den Kommissar Erich Felsberg geheiratet hatte, war sie schwanger geworden. Ab Jänner würde Anton nicht nur beim Drehen der Hustenpastillen unterstützen, sondern für einige Zeit hinter den Verkaufstresen zurückkehren. Er sah dem mit gemischten Gefühlen entgegen, hatte er sich doch an seinen geruhsamen Alltag mit Ernestine gewöhnt. Auch wenn die unternehmungslustige Pensionistin ihn immer wieder zu Aktivitäten überredete, auf die er sich allein niemals einlassen würde, verlief sein Leben doch in deutlich ruhigeren Bahnen als noch vor ein paar Jahren.
»Ja, es ist warm genug. Ich hole die Pölster für die Gartensessel«, bot Ernestine an und verschwand im Schuppen zwischen Kutscherhäuschen und Apotheke.
Kurz darauf saßen die beiden bei Kaffee und Butter-Honig-Semmeln im Garten und streckten die Gesichter der wärmenden Sonne entgegen. Zufrieden langte Anton nach der Morgenausgabe der Wiener Zeitung, überflog die Überschriften und runzelte dann sorgenvoll die Stirn.
»Es gefällt mir nicht, dass die Sozialisten sich paramilitärisch formieren«, brummte er. »Wer braucht denn einen Schutzbund?«
»Es ist die logische Antwort auf die Heimwehren der Christlichsozialen«, meinte Ernestine. »Wäre es dir lieber, man würde diesen bewaffneten Einheiten nichts entgegensetzen?« Während sich auf dem Land schon kurz nach dem größten aller Kriege die christlichsozialen Ortswehren paramilitärisch aufgerüstet hatten, zogen die Sozialisten in den Städten erst jetzt mit Verspätung nach.
»Ich würde ein Österreich vorziehen, in dem weder das rechte noch das linke Lager Waffen besitzt«, sagte Anton. »Wer Gewehre hat, wird sie früher oder später auch einsetzen. Und was haben wir dann? Österreicher, die auf Österreicher schießen. Bei der Vorstellung gefriert mir das Blut in den Adern.«
Ernestine schüttelte den Kopf. »Ach, Anton, du siehst die Lage zu düster. Warum sollte das passieren? Der große Hunger liegt hinter uns. Wir sehen einer rosigen Zukunft entgegen. Sonnige Zeiten, in denen die Menschen friedlich zusammenleben. Wir haben alle unsere Lehren aus dem schrecklichen Krieg gezoge