1. KAPITEL
Noch bevor Bob am Horizont aufgezogen war, hatte Max den Kometen angefleht, sie für das diesjährige Festival zurückzubringen und ihm seinen Wunsch zu erfüllen. Schon seit Wochen redete er sich Mut zu, damit er sich nicht wieder in den schüchternen Jungen von damals verwandelte, wenn er auf sie traf. Er hatte sich versichert, dass er ein guter Mann war. Dass sie als erwachsene Frau nicht mehr unter dem Einfluss ihrer Familie stand. Dass die soziale und ökonomische Kluft zwischen ihnen keine Bedeutung mehr hatte. Und dass er – obwohl sie die unglaublichste Frau war, die je gelebt hatte – nun sogar eine Chance bei ihr hatte.
Aber obwohl er sich so gründlich auf Marcy Hanlons Rückkehr nach Endicott vorbereitet hatte, war Max Travers überhaupt nicht auf Marcy Hanlons Rückkehr nach Endicott vorbereitet.
Sie stand auf der anderen Seite der Water Street und sah ins Schaufenster von Barton’s Bookstore. Max konnte nicht anders, als wie angewurzelt stehenzubleiben, als wäre er durch ein Portal in die Vergangenheit getreten und wieder zu einem Teenager geworden.
Marcy sah gar nicht mehr aus wie Marcy, stellte er fest. Sie hatte schulterlange, kastanienbraune Locken statt der glatten, rotblonden Strähnen, die ihr früher bis auf den Rücken gefallen waren. Die alabasterweiße Haut, die sie früher mit Lichtschutzfaktor 50 eingecremt hatte, hatte jetzt einen sonnengeküssten Goldton angenommen. Sie trug eine fließende Tunika und weite Hosen in der Farbe von Sommersalbei statt zerrissener Röhrenjeans und Tops. Und eine große Designersonnenbrille verbarg ihre Augen. Augen, welche, wie er sich erinnerte, genauso perfekt blassblau waren wie Tibet-Scheinmohn.
Dennoch wusste er, dass sie es war. Er erkannte es an ihrer Haltung. Wie sie ihr Gewicht auf den linken Fuß verlagerte, den rechten auf der Ferse abstellte und ihre Zehen gen Himmel streckte. Daran, wie sie sich unsicher mit einer Hand an den Nacken fasste, was im völligen Widerspruch zu ihrer selbstbewussten Haltung stand, mit der Marcy immer die perfekte Hanlon’sche Familienharmonie aufrechterhalten hatte. Wobei die Hanlons ganz und gar nicht perfekt oder harmonisch waren – abgesehen natürlich von Marcy. Sie war in jederlei Hinsicht perfekt.
Außerdem erkannte er sie an dem heißen Knistern, das ihn durchströmte und jede Zelle seines Körpers fast zum Bersten brachte. Schon immer hatte sie diese Wirkung auf ihn gehabt, wenn sie nur auf die Länge eines Footballfeldes in seine Nähe gekommen war. Dieses Knistern war einfach da, auch wenn er sie nicht sehen konnte. Als ob sie beide seit Anbeginn der Zeit zusammengehörten und mit einem kosmischen Faden verbunden waren, der nicht zu durchtrennen war.
O ja, da war sie wieder: Max’ Unsicherheit wie zu Teenagertagen. Eigentlich konnte er direkt nach Hause gehen und eine weitere „Ode an Marcy“ aufschreiben, so wie er es früher so oft getan hatte. Er hatte gehofft, seine Scham hinter sich gelassen zu haben, aber so wirklich verließ sie einen wohl nie.
Und jetzt stand er wieder genauso da wie damals, als er sie das letzte Mal gesehen hatte. Marcy hatte ihm aus dem Heckfenster des Escalade ihres Vaters zugewunken, als die Hanlons gefolgt von einer ganzen Flotte aus Umzugswagen aus der Stadt gefahren waren. Es war eine Woche nach dem letzten Schultag gewesen, und die Erkenntnis, dass er sie vielleicht niemals wiedersehen würde, hatte sich wie ein Eisklumpen in seinem Magen festgesetzt. Das Ganze war noch davon verschlimmert worden, dass Marcys Mutter ihre Tochter plötzlich mit einem Ruck vom Fenster weggezogen und Max daraufhin einen der bösartigsten Blicke zugeworfen hatte, den er je gesehen hatte. Dabei hatten ihm alle Hanlons, bis auf Marcy, vorher schon sehr bösartige Blicke zugeworfen.
Jetzt beobachtete er, wie sie in den Buchladen ging und aus seinem Blickfeld verschwand, genauso wie vor fünfzehn Jahren. Damals hatte er nichts gegen ihr Verschwinden tun können. Was hätte er ihr damals auch sagen können? Hätte ihn ihre Familie überhaupt an sie herangelassen? Mehr als ein „Hey, Marcy, was geht?“ hatte er sowieso nie herausbekommen. Aber jetzt …
Ach, wem wollte er etwas vormachen? Er war immer noch nicht selbstbewusster geworden und sollte lieber das tun, was er immer getan hatte: den Schwanz einziehen und nach Hause gehen.
Nein, sagte er sich. Niemals. Er hatte viel zu lange auf diesen Tag gewartet. Bob würde seinen Wunsch dieses Jahr mit Sicherheit erfüllen.
Als sie im Buchladen verschwunden war, konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen. Früher waren sie sich oft bei Barton’s und noch häufiger in der Bibliothek begegnet, weil sie beide echte Leseratten waren. Manchmal hatte er bei den Hanlons gearbeitet, wenn Marcy am Pool gelesen hatte. Dann hatte er genug Mut aufgebracht, um sie auf ihr Buch anzusprechen, und so hatten sie sich nett unterhalten. Bis jemand von ihrer Familie aufgetaucht war, um Max daran zu erinnern, dass er zum Arbeiten hier war.
Der wahre Grund, warum die Hanlons ihn immer verscheucht hatten, hatte natürlich nichts mit seinen Verpflichtungen zu tun gehabt, sondern nur damit, ihn von Marcy fernzuhalten. Aber von den Hanlons war niemand mehr hier, also konnte er mit Marcy reden, so viel er wollte. Vorausgesetzt, dass sie einverstanden war.
Die Entscheidung war also gefallen. Und so machte er sich auf den Weg über die Straße.
Marcy Hanlon schob ihre gigantische Sonnenbrille nach oben, starrte auf den Bücherstapel auf dem Tisch in Barton’s Bookstore und versuchte, nicht zu weinen.
Marcella Robillards neuester KriminalromanWas der Teufel verspricht hatte einen annehmbaren Titel und ein wu