»Du fängst mich doch nicht!«, rief Heidi und rannte vor Pünktchen davon, die gerade aus dem Herrenhaus kam, in dem das Kinderheim Sophienlust untergebracht war. »Ich bin viel schneller als du!«
»Na warte!«, rief die dreizehnjährige Angelina Dommin, genannt Pünktchen, der Kleinen nach. Im Laufen strich sie ihre blonden Haare zurück, die ihr immer wieder in die Stirn fielen.
»Nein, du fängst mich nicht!« Heidi jagte durch den Park von Sophienlust. Fangen spielte sie für ihr Leben gern, und sie vergaß dabei oft, dass es nur ein Spiel war.
»Gleich habe ich dich!«
Pünktchen war nur noch wenige Meter von Heidi entfernt, da passierte es. Das fünfjährige Mädchen stolperte plötzlich über eine aus der Erde herausragende Wurzel und fiel der Länge nach hin.
»Au!«, schrie Heidi, mehr erschrocken als vor Schmerz, auf.
»Heidi, hast du dir wehgetan?« Mit wenigen Schritten war Pünktchen bei der Kleinen und hockte sich neben sie ins Gras. »Kannst du aufstehen?«
»Meine Knie«, jammerte Heidi und zeigte mit kläglicher Miene auf ihre aufgeschrammten Knie. »Und meine Hände auch!« Sie verzog ihr Gesicht. Ihre blauen Augen füllten sich jetzt mit Tränen.
»Aber wer wird denn weinen, Heidi?«, fragte Pünktchen mitleidig. Sie zog ein sauberes Taschentuch aus ihren abgetragenen Jeans und säuberte Heidis Händchen. »Wetten, dass Magda ein paar Plätzchen darauflegen wird?« Sie lächelte der Kleinen ermutigend zu.
»Und meine Knie?«, fragte Heidi. »Wird sie darauf auch Plätzchen legen?« Sie legte das blonde Köpfchen schief.
»Ganz sicher«, sagte Pünktchen, »aber Schwester Regine muss auch Hansaplast auf deine Knie kleben.«
»Und Jod?«, fragte Heidi ängstlich.
»Ich glaube schon«, entgegnete Pünktchen. »Mal sehen, ob du laufen kannst.« Sie stand auf und reichte Heidi ihre Hand. Sanft zog sie die Fünfjährige hoch.
»Laufen kann ich schon«, sagte Heidi und fügte hinzu: »Vielleicht muss gar kein Jod drauf.« An Pünktchens Hand humpelte sie zum Hauptgebäude des Kinderheimes zurück.
»Bist du hingefallen, Heidi?«, fragte Fabian Schöller, der den beiden in der großen Halle begegnete. »Ist es sehr schlimm?«
»Nein, Schwester Regine muss bestimmt kein Jod drauftun«, behauptete Heidi zuerst kopfschüttelnd, dann nickend.
Pünktchen blinzelte Fabian zu. Der schmächtige Junge grinste. »Bis du heiratest, ist schon alles wieder heil«, meinte er.
»Ich heirate aber nicht«, sagte Heidi. »Ich bleibe immer in Sophienlust.«
»Ich bringe Heidi ins Erste-Hilfe-Zimmer, Fabian. Kannst du Schwester Regine rufen?«, bat Pünktchen den Elfjährigen.
»Wird gemacht!« Wie der Wind lief Fabian die Treppe zum ersten Stock empor. Er hatte dort erst vor fünf Minuten die Kinder- und Krankenschwester zum Privatzimmer Denise von Schoeneckers gehen sehen.
»Schwester Regine!«, rief der Junge durch den Gang, von dem rechts und links die Türen zu den Schlafzimmern und Nebenräumen abzweigten. Als die Schwester nicht gleich antwortete, klopfte er an die Tür von Denises Zimmer.
»Bitte!«, rief Denise von Schoenecker.
Fabian trat ein. »Schwester Regine, Heidi ist hingefallen und hat sich die Knie aufgeschlagen. Pünktchen hat sie ins Erste-Hilfe-Zimmer gebracht.«
Schwester Regine, eine hübsche junge Frau, stand auf. Entschuldigend schaute sie Denise von Schoenecker an. »Ich bin gleich wieder da, Frau von Schoenecker«, versprach sie.
»Lassen Sie sich nur Zeit, Schwester Regine«, entgegnete Denise freundlich. »Die Kinder gehen vor. Würde ich nicht auf einen Anruf warten müssen, würde ich mitkommen.«
Gefolgt von Fabian ging Schwester Regine ins Erste-Hilfe-Zimmer. Pünktchen hatte Heidi inzwischen auf die Untersuchungsliege gehoben. Ängstlich schaute das kleine Mädchen der jungen Schwester entgegen.
»Na, was machst du denn für Sachen, Heidi?«, fragte Schwester Regine und strich der Kleinen liebevoll über die blonden Haare. Eines von Heidis Rattenschwänzchen hatte sich gelöst.
»Ich bin hingefallen«, sagte Heidi. Stolz fügte sie hinzu: »Ich kann viel schneller laufen als Pünktchen. Wäre ich nicht hingefallen, dann hätte sie mich in hundert Jahren nicht eingeholt.«
»In hundert Jahren wäre ich hundertdreizehn«, sagte Pünktchen lachend. »Ich glaube nicht, dass ich dir dann noch nachlaufen würde.«
»Und ich wäre hundertfünf Jahre a