In dem großen Aufenthaltsraum von Sophienlust herrschte an diesem kühlen und nassen Herbsttag ein fröhliches Treiben. Die Kinder lachten und schwatzten munter durcheinander. Sie saßen an ihren Tischen und bastelten aus Kastanien lustige Männlein und allerlei drollige kleine Tiere. Stolz hielten sie ihre Kunstwerke hoch, wenn sie eine Arbeit beendet hatten, damit auch alle sehen konnten, was sie fabriziert hatten. Schwester Regine, die von Tisch zu Tisch ging, sparte dann auch nicht mit Lob.
Als Denise von Schoenecker den Raum betrat, wurde für einen Augenblick die Arbeit unterbrochen. Die Kinder sahen hoch und sprangen von ihren Plätzen auf, um ihre geliebte Tante Isi zu begrüßen. Denise von Schoenecker wusste nicht, wohin sie zuerst sehen sollte, welches Kunstwerk sie zuerst bewundern sollte.
»Ich habe schon einen richtigen kleinen Zoo gebastelt«, sagte die kleine Heidi Holsten, ein Dauergast in Sophienlust, stolz. »Sieh nur, ist das Vögelchen nicht süß? Es hat richtige kleine Flügel. Ich habe die Federn im Garten gefunden.«
»Wunderschön«, lobte Denise und strich dem blonden kleinen Mädchen liebevoll über das Haar. »Du bist ja eine richtige kleine Künstlerin.«
»Mein Männchen ist aber noch schöner.« Damit hob ein kleiner Bub sein Kastanienmännchen hoch. »Soll ich es dir schenken, Tante Isi?«
»Würdest du das wirklich tun?«
Der Kleine wurde etwas unsicher und sah auf das Figürchen. »Eigentlich würde ich es lieber behalten«, sagte er nach einer Weile. »Weißt du, ich mache noch eins, und das bekommst du dann.«
»Fein«, sagte Denise lächelnd und trat an das Fenster, wo zwei größere Mädchen dabei waren, einen bunten Herbststrauß in einer Vase zu ordnen.
»Wir haben die Blumen vorhin aus dem Garten geholt. Es ist heute ein so trüber Tag. Da wollen wir uns wenigstens etwas Farbe ins Zimmer holen«, sagte die blonde Angelina Dommin oder Pünktchen, wie sie wegen ihrer vielen lustigen Sommersprossen genannt wurde.
»Das ist recht«, lobte Denise. »Die Blumen sind wunderschön. Hoffentlich bekommen wir in diesem Jahr nicht so bald Frost, damit wir noch recht lange etwas von unseren Blumen haben.«
»In dein Zimmer haben wir auch einen kleinen Strauß gestellt«, sagte Angelika Langenbach, die wie Pünktchen ständig in Sophienlust lebte. »Wir wissen doch, wie sehr du die Blumen magst, Tante Isi. Und wir sind dir alle so dankbar. Was wäre aus uns allen geworden, wenn du uns nicht in Sophienlust aufgenommen hättest? Wie traurig waren wir alle und verzweifelt, als wir hierherkamen. Jetzt sind wir glücklich. Hoffentlich vergessen auch Torsten und Steffi bald ihren Kummer. Im Augenblick sind sie ja noch nicht ansprechbar.« Bei ihren Worten sah Angelika zu einem Tisch hinüber, an dem zwei kleine Kinder saßen.
Denise, die Angelikas Blick gefolgt war, wurde ernst. »Hoffentlich«, murmelte sie gepresst und ging dann zu dem Tisch, an dem die Kinder saßen.
Der Bub, er war fünf Jahre alt, hatte vor sich ein paar Kastanien liegen, die er lustlos betrachtete. Ab und zu nahm er eine Kastanie in die Hand, betrachtete sie, um sie dann wieder auf den Tisch zurückzulegen. Seine kleine Schwester, die neben ihm saß, hatte zwei Fingerchen im Mund und die Augen halb geschlossen, sodass es aussah, als wäre sie gerade am Einschlafen.
Denise wusste jedoch, dass die bildhübsche dreijährige Steffi nicht am Einschlafen war. Das Kind hielt die Augen oft geschlossen, als wollte es das, was ringsum geschah, nicht sehen. Es fürchtete sich noch immer vor den vielen Kindern. Deren lautes und fröhliches Lachen flößte ihm Angst und Schrecken ein.
Seit vier Wochen waren die beiden Kinder jetzt in Sophienlust, aber leider waren sie noch immer bedrückt und traurig. Noch immer hatten sie den Schock nicht überwunden, den der plötzliche Tod der Eltern bei ihnen hinterlassen hatte.
Torsten und Stefanies Eltern waren Artisten gewesen. Sie waren in einem Zirkus aufgetreten. Bei der Einübung einer neuen Trapeznummer waren sie abgestürzt. Das Netz, über dem sie gearbeitet hatten, war aus ungeklärten Gründen aus der Befestigung gerissen worden. So hatte Denise es gehört. Sonst hatte sie wenig über die Eltern der Kinder erfahren. Beide Elternteile sollten noch sehr jung gewesen sein.
»Tante Isi«, flüsterte die kleine Steffi, als sich Denise zu den beiden Kindern setzte. In ihren Augen leuchtete es für einen Augenblick freudig auf. Auch Torsten hob den Kopf und lächelte Denise scheu an.
»So schöne Kastanien habt ihr da. Wollt ihr nicht auch ein Männlein basteln? Schwester Regine hat euch doch gewiss gezeigt, wie ihr das machen sollt.«
Torsten schüttelte den Kopf. »Nicht Schwester Regine. Pünktchen hat es uns gezeigt«, stellte er richtig. »Wir wollen kein Kastanienmännlein«, fügte er sehr energisch