1.1 »Hat der überhaupt zugehört?!« – Warum andere Sie missverstehen
Talbot J. Taylor, Professor für Englisch und Linguistik am College of William & Mary, der zweitältesten Universität der Vereinigten Staaten von Amerika, publizierte 1992 ein Buch, dessen Titel mich damals förmlich elektrisierte:Mutual Misunderstanding – Gemeinschaftliches Missverstehen. »Ja, das ist es!«, rief ich mir innerlich zu, »wir ringen nicht darum, uns zu verstehen, sondern darum, uns nicht andauernd misszuverstehen!«. Und was sagen Sie: Ist es nicht das, worum es geht? Dieser ewige Kampf, nicht missverstanden zu werden? Diese Sorge, dieser Frust und auch diese Anstrengung?
Unabhängig davon, ob Sie dem ersten oder dem zweiten dieser Sätze zustimmen würden,
Täglich bemühe ich mich, verstanden zu werden.
oder
Täglich bemühen wir uns darum, einander nicht misszuverstehen.
bitte ich Sie, sich auf diese zwei Arbeitsthesen einzulassen:
These 1
Verständnissicherung ist eine gemeinschaftliche Aufgabe und ein gemeinschaftlicher Erfolg.
These 2
Sich unbemerkt misszuverstehen ist ebenso wahrscheinlich wie sich unüberlegt zu verstehen.
Ich könnte mir vorstellen, dass Sie These 1 gerne oder zumindest nach ein wenig Nachdenken zustimmen würden, doch dass Sie bei These 2 eher freundlich abwinken würden. Und falls Sie sich jetzt sorgen sollten, dass der Herr Doktor Sie mit dem Stöckchen der Rhetorik durch den brennenden Reifen einer eingehenden intellektuellen Erörterung treiben wolle, seien Sie beruhigt: Taylors Buch ist allerfeinste, prismenscharfe Sprachphilosophie, die sich einem etwas anderen Themenfeld widmet als dem unsrigen. Lassen Sie mich Ihnen lieber eine Definition für Missverständnisse anbieten aus einem Skript, das ich knapp 30 Jahre nach dem Erscheinen von »Mutual Misunderstanding« für meine Klienten geschrieben habe:
Ein Missverständnis ist das Ergebnis der Fehlannahme zweier oder mehrerer Gesprächspartner, sich gegenseitig verstanden zu haben. Ein Missverständnis führt zu mindestens zwei parallelen Wirklichkeitskonstrukten bei der allseitigen Annahme, dass es nur eine eindeutige, gemeinsame Wirklichkeit gebe. Deshalb bleibt ein Missverständnis unerkannt, solange daraus keine überraschenden, irritierenden oder schädlichen Folgen entstehen.
Ich finde meine Definition zwar nach wie vor präzise und zutreffend, aber Ihnen ist sie möglicherweise noch zu nah an der Sprachphilosophie. Und gegen zu viel Philosophie hilft meist ein Bild. Nehmen wir als Bild doch die von mir für die Praxis angepasste Version des Ihnen sicherlich bekannten, in den 1960er Jahren der Nachrichtentechnik entliehenen Sender-Empfänger-Modells (vgl. Abb. 1.1): das 3i-Modell.
Abb. 1.1: Das 3i-Modell der Kommunikation
Ein Sender sendet auf einem Kanal (Licht, Schallwellen, Papier o. Ä.) einen Text (Mimik/Gestik, Sprache, geschriebener Text) zum Empfänger. Meist wird gesagt, die übermittelte Information befinde sich im Text. Dies ist aber nur zu einem Drittel richtig, denn bevor die Information übermittelt werden kann, muss sie im Kopf des Senders vorhanden sein/entstehen, und sie muss im Kopf der Empfängerin ankommen und dort in irgendeiner Weise verstanden werden. Ich spreche deshalb lieber von den drei Orten, an denen Information entstehen und existieren kann: