: Titus Müller
: Feuerland Roman
: Kanon Verlag
: 9783985681563
: 1
: CHF 11.70
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 440
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Hannes Böhm lebt in dem Industrieviertel, das die Berliner »Feuerland« nennen, weil hier die Schornsteine qualmen. Er verdient sich ein kleines Zubrot, indem er neugierigen Bürgern die Armut in den Hinterhäusern zeigt. Bei einer solchen Gelegenheit lernt er Alice kennen, die als Tochter des Kastellans im Berliner Stadtschloss wohnt. Dass es hinter der herrschaftlichen Fassade kalt ist wie in den Hinterhöfen der Stadt, lernt Hannes bald, während Alice tief beeindruckt ist von seinem Ehrgeiz. Doch als die Märzunruhen 1848 ausbrechen, scheint es für die Gefühle, die Hannes und Alice füreinander entwickeln, keine Zukunft zu geben. - Ein epochales Porträt einer Zeit im Umbruch.

Titus Müller, geboren 1977, über ein Dutzend Romane. Er lebt mit seiner Familie in Landshut, ist Mitglied des PEN-Clubs und wurde u.a. mit dem C.S. Lewis-Preis und dem Homer-Preis ausgezeichnet. Seine Trilogie um »Die fremde Spionin« ist ein SPIEGEL-Bestseller.

1


Berlin, Montag, 6. März 1848


»Das sind die berüchtigten Familienhäuser?« Die Frauen sahen mit großen Augen an der Fassade hinauf.

Hannes machte eine Geste wie ein Zirkusimpresario. »Treten Sie näher, treten Sie ein, meine Damen! Dieses hier nennt man das Lange Haus. Das Souterrain wurde bereits vermietet, bevor das erste Obergeschoss fertig gebaut war. Damals war die Kellerdecke so nass, dass das Wasser herabtropfte. Heute enthält jedes Stockwerk dreißig elende Wohnungen.«

Sie spähten verunsichert in das dunkle Treppenhaus.

»Solange Sie sich nicht in eines der flohverseuchten Betten legen, ist der Besuch ungefährlich.« Er bugsierte die Damen durch den Flur in die Wohnung. Verschüchtert drückte sich eine schmutzige Kinderschar an die Wand. Ihre Kleider hätte man andernorts nur noch als Putzlappen verwendet. Ein Mann richtete sich vom Tisch auf. Hannes stutzte. Wer war das? Was war mit dem Scherenschleifer geschehen, mit dem er sich gestern verabredet hatte? Garnreste lagen auf dem Tisch, er improvisierte: »Das ist Lorenz. Er ist ein verarmter Weber. Tag für Tag sucht er sich bei anderen Webern unbrauchbares Garn zusammen und fertigt daraus Schürzenschnüre. Wie viele Kinder hast du, Lorenz?«

»Sieben«, antwortete der Weber.

»Nicht so bescheiden! Du musst dich vor den Damen nicht genieren. Er hat dreizehn Kinder«, sagte Hannes, »aber er schämt sich, denn von der achtjährigen Pauline bis zum vierzehnjährigen Emil arbeiten sie alle in der Fabrik. Nur die Jüngsten sind hier und quälen sich im Hungerfieber durch den Tag.«

Die Frauen seufzten vor Mitleid. Die Rothaarige nestelte einen Silbergroschen aus ihrer Börse und legte ihn auf den Tisch. »Für die Kinder«, hauchte sie. Die drei anderen folgten ihrem Beispiel.

Der Weber verbeugte sich. »Meinen aufrichtigen Dank.«

Die mädchenhaften Gesichter der Besucherinnen glühten vor Zufriedenheit, während Hannes sie in die nächste Wohnung führte. »Dieses Zimmer wird von zwei Familien bewohnt. Sie sehen es am Strick, der quer hindurch gespannt ist und den Raum in zwei Hälften teilt. Meist hängt eine graue, filzige Decke darüber.« Er wies auf den schlafenden Säufer, der hier jeden Tag die Morgenstunden verdämmerte. »Das ist Ulrich. Er ist zweiundachtzig Jahre alt und vollständig gelähmt.«

»Zwei Familien in dieser engen Kammer?«, fragte eine der