Ludmila
Eine Erzählung aus Liechtenstein
Talaufwärts von Steig, einem Dorf im FürstentumLiechtenstein, wo von den Gipfeln des Ochsenkopfs und Silberhorns der ungestüme Malbun aus seinem Gletscherbett herabgestürzt kommt, findet man in einer Nische, die über den schäumenden Wassern aus dem Felsen gehauen ist, einen Bildstock der Sancta Ludmila, der heiligen Notburga.
Es ist eine liebliche Gestalt in Sennerinnentracht mit einem sonnengoldenen Strahlenkranz statt des gewöhnlichen Heiligenscheins hinter dem Haupt. In der einen Hand hält sie eine Sichel, in der anderen einen Milchkrug, denn sie ist die Schutzpatronin der Sennen und Melker, der Hirten, Käser und Buttermacher; und das graubraune Alpenvieh mit den breiten Stirnen, den geschwungenen Hörnern und den großen, sanften Augen steht unter ihrem besonderen Schutz.
Ein ausgeblichener Schädel und die fahlen Hörner einer, wie es scheint, einst kleinen Kuh zu Füßen der Figur deuten außerdem auf ein enges Verhältnis der Heiligen mit diesen Tieren hin.
Die jüngste Generation, die nicht mehr mit den Gebirgslegenden aufgewachsen ist, weiß wohl kaum, was es damit auf sich hat; doch so mancher der Ältesten aus dem Tal kann sich noch erinnern, wie er auf dem Schoß der Mutter von dem Wunder hörte, das die heilige Notburga, die selige Milchmagd, vor mehr als hundert Jahren vollbracht hat, als der Sommer zu Ende ging und das Vieh von der Alp nach Vaduz im Rheintal heruntergetrieben wurde.
Alle, die an dem Ereignis beteiligt waren, sind längst tot, der bärtige, nüchterne Senn Alois, seine braunhaarige Tochter Ludmila, die damals erst sieben war und den Namen der Heiligen trug, Pater Polda, der Bergpriester, Kaplan in Steg, und natürlich der kleine Schwächling, die Kuh, deren Schädel und Hörner den Bildstock der Schutzheiligen aller Milchkühe schmücken.
Nur das strahlendblaue Fest kann man noch jeden Herbst in Liechtenstein erleben, sobald es auf den Pässen oben zu schneien droht und das Vieh zu husten beginnt, wenn die kalten Winde vom Sareiserjoch und den Gletschern hinter dem Wildberg und Panülerkopf herunterfegen.
Siebzehnhundert Meter über dem gewundenen Rhein, hinter der Granitmauer der Drei Schwestern oberhalb Schaan verbirgt sich das Saminatal, das nach Malbun hinaufführt. Es zeichnet sich durch sein saftiges Gras und die ruhigen, geschützten Weiden aus, auf denen da und dort eine Pflanze wächst, die man in den Niederungen nicht findet, eines jener seltenen Frauenmantelgewächse der Gattung Alchemilla, das die Liechtensteiner Mutterkraut nennen, weil die Kühe, wie man glaubt, mehr Milch geben, wenn sie es fressen. Die Sennen halten ständig die Augen offen nach den gelbblühenden, breitblättrigen Pflanzen, die am besten an jenen schattigen Plätzen zu gedeihen scheinen, wo der Schnee im Winter am längsten liegen bleibt.
Zugang zu diesem verborgenen und bezaubernden Tal bietet der durch fünfhundert Meter massiven Fels führende Tunnel in der Nähe von Steg, durch den das Vieh, wie es in Liechtenstein üblich ist, jedes Frühjahr ins Gebirge hinaufzieht. Es wird den Sennern, Melkern und Käsern anvertraut, die mit den Tieren aufbrechen und ihre Familien in pferdebespannten Holzkarren mitnehmen.
Dort bleiben sie den ganzen Sommer über, leben hoch oben in den Alphütten, hüten die Kühe auf der Weide, melken sie, machen gleich an Ort und Stelle den fetten gelben Käse, die sahnige Butter und zeichnen den Ertrag eines jeden Tiers sorgfältig auf. Mit dem Tal unten haben sie keine Verbindung. Herde und Hirten sind verschwunden und tauchen erst Mitte September wieder auf.
Doch dann kommt der große Tag.
Meilenweit strömen die Bauern aus dem ganzen Land in Gnalp unterhalb des Kulms am Ausgang des Tunnels zusammen. Von Triesen, Vaduz, Balzers und Schaan unten im Rheintal steigen sie die gewundenen Wege herauf, begrüßen freudig winkend die zurückkehrenden Wanderer und drängen sich so nah wie möglich an den Ausgang des Tunnels, um zu sehen, welche und wessen Kuh als Erste auftaucht und zum Zeichen ihrer Meisterschaft alle andern führen darf.
Die Alpabfahrt, der Abtrieb, beginnt am frühen Morgen, wenn die strahlende Sonne über dem Rheintal die sch