1.1 Das Gehaltsparadoxon: Arbeitskräftemangel, Working Poor und Gender Pay Gap
Die Frage nach »fairem Gehalt« oder »dem richtigen Gehalt« ist an der sensiblen Schnittstelle von Gehaltspolitik und Gesellschaftspolitik zu Hause. Bevor wir also sagen können, was ein faires Gehaltssystem ausmacht, müssen wir uns den »Problembären« widmen, die eine Beschäftigung mit der Materie erst notwendig machen: Es geht zuallererst um die unangenehme Fragen nach dem (hartnäckigen) Gender Pay Gap, dann um die Frage, wieso sich im reichen Mitteleuropa Menschen vom Vollzeitgehalt das Leben nicht leisten können, und schließlich um die Frage: Was ist eigentlich fair?
1.1.1 Den Gender Pay Gap kann man nicht weglächeln
Männer verdienen in Europa noch immer signifikant mehr als Frauen. Die notwendige Bekämpfung dieses Gender Pay Gaps war die Hauptursache für die Entstehung der Entgelttransparenzrichtlinie (synonym: Lohntransparenzrichtlinie, abgekürzt: ETRL), da vorhergehende Maßnahmen nicht die gewünschten Erfolge lieferten. Und die letzten Jahre stagnierte die Reduktion des Gender Pay Gap im DACH-Raum weitgehend (Eurostat, 2024a):
Österreich und Deutschland waren lange Zeit in einer Aufholjagd zu Equal Pay und haben ihren Gender Pay Gap jeweils von über 22 % auf 18–19 % reduziert. Seit zwei Jahren verharren die Werte beider Länder nun in diesem Bereich. Und damit weit über EU-Schnitt.
Die Schweiz, mit einer stellenweisen Durchdringung von Stellenbewertungen (v. a. in Produktionsbereichen und der – hier irrelevanten – öffentlichen Hand) und frühen Maßnahmen zu Equal Pay, wurde damit von Österreich und Deutschland eingeholt. Der Gipfelstürmer Schweiz wurde zum Durchschnitt.
In der Realität liegt der Gender Pay Gap wohl noch höher als öffentlich wahrgenommen: Eurostat1 inkludiert nur Organisationen mit zehn oder mehr Angestellten, was positiv verzerren kann. In nationalen Statistiken werden oft Beamtinnen und Beamte sowie andere öffentlich Bedienstete in den Gender Pay Gap miteingerechnet. Dieser fällt dann meist niedriger aus, da öffentliche Arbeitsstellen in der Regel diskriminierungsfreier entlohnen als private Arbeitsstellen.2 In Österreich beispielsweise liegt der Gender Pay Gap 2022 bei Angestellten bei knapp 30 % (Arbeiter:innen: 26 %), bei Vertragsbediensteten (einer Vertragsart ähnlich zu einem öffentlichen Tarifvertrag) bei nur rund 5 % (Statistik Austria, 2023a).
Abb. 1: »Unbereinigter«
3 Gender Pay Gap auf Stundenbasis (TZ-bereinigt), Wirtschaftsunternehmen mit zehn oder mehr Beschäftigten
Im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion steht neben der (empirisch unbestrittenen) Existenz des Gender Pay Gap die Frage nach den Ursachen für dieses Gehaltsgefälle. In Deutschland kann der »bereinigte« Gender Pay Gap nur etwa die Hälfte4 des Lohnunterschieds durch Faktoren wie Bildung, Alter etc. erklären (Klammer et al., 2018, S. 66). Österreich kommt gar auf 68,4 % unerklärbaren Gender Pay Gap (Geisberger & Glaser, 2021, S. 443). Dieser restliche Anteil des Gender Pay Gap wird in aktueller Literatur (Klammer et al., 2018, S. 12) insbesondere durch den »Bewertungseffekt«5 – also die ungleiche Bezahlung bei gleichwertiger Arbeit – erklärt. Der unerklärbare Anteil des Gender Pay Gap ist alsdann eigentlich erklärbar – allerdings durch diskriminierende Faktoren bzw. schief stehende Bewertungen aller Art (Klammer et al., 2018, S. 59).
Das heißt also: Wenn die üblichen erwartbaren unabhängigen Variablen (Alter, Ausbildung etc.) den Gender Pay Gap nur zu einem Drittel bis zwei Drittel erklären können – dann muss der Hund irgendwo in der Bewertung u