Die Burg thronte müde über der Stadt. Der Mond blendete die Moldau, damit sie nicht auch noch einschliefe. Selbst die verrufenen Spelunken in den verwinkelten Gassen der Altstadt, letzte Zufluchtsorte für alle, die nicht nach Hause konnten oder wollten: wie leergefegt. Am endlos gewölbten Himmel leuchteten die Sterne stumm um die Wette. Die kälteste Nacht des Jahres 1910 war hell und frostig. Dazu eine gedämpfte Stille, als wäre gerade frischer Schnee auf das Kopfsteinpflaster und die hundert Türme der Stadt gefallen. Nur hier oder da zerschnitt eine spätabendliche Elektrische die eisige Ruhe. Prag hielt Winterschlaf.
Karel Novák fröstelte, obwohl er den zugigen Wind auf der Franzens-Brücke gewohnt war. Der alte Zöllner, klein und mit hagerem Gesicht, hockte in seiner schlecht sitzenden Uniform im steinernen Mauthäuschen. Auf der anderen Seite der Brücke hatte sein Kollege Honza gerade die Läden seines Fensters geschlossen. Wer den Fluss überquerte, musste bis zum Morgengrauen bei Novák bezahlen. Fußgänger zwei, Radfahrer vier, Einspänner zehn, Zweispänner zwanzig Heller. Die Preise waren in dieser Nacht allerdings nicht von Interesse. Selten sollte der Zöllner einen derart einsamen Dienst auf der Brücke verbringen.
Auf dem Weg zur Arbeit suchte Novák wie üblich den Himmel ab. Der Johannesburger Komet hatte vor einigen Tagen seine maximale Helligkeit erreicht. Man sah seinen Besuch allerdings nur als Vorboten des eigentlichen Unglücks: Die Erde, so wurde gemunkelt, würde im Frühjahr den gewaltigen Blausäureschweif des Kometen Halley passieren und darin vergehen. Ganz Prag starrte seit dem Jahreswechsel also nach oben und verlor den Boden unter den Füßen. Überall blühte das Geschäft mit der Himmelspanik. Wer wollte, konnte sich an eilig zusammengezimmerten Ständen von Kanarienvögeln und Wellensittichen die Zukunftskarten ziehen lassen. Je mehr man zahlte, desto besser wurden die Aussichten. In allabendlichen spiritistischen Séancen riefen die Bürgerkinder der Stadt die Geister der Vergangenheit an. Als wären sie von allen guten Geistern verlassen, fand Novák.
Zugegeben, auch er bereitete sich vor. Aber auf seine Art. Im Keller seiner Mietskaserne in Žižkow, der ausufernd wachsenden Vorstadt der tschechischen Arbeiterschaft, grub er in den freien Nächten im hintersten Winkel ein Erdloch. Mit bloßen Händen. Breit und tief genug, um die Apokalypse zu überstehen. Schlimmstenfalls will ich wenigstens ein bequemes Grab haben, schwor er sich, ganz für mich allein. Seine Frau war vor einigen Jahren an Typhus gestorben. Seitdem hatte er nichts mehr zu verlieren, nur das eigene Leben. Und das war ihm lieb. Nach getaner Arbeit verdeckte er sein künftiges Refugium unter Holzbrettern und Lumpen und versteckte auf dem Weg in seine winzige Bleibe die erdverkrusteten Hände in den Hosentaschen. Niemand würde jemals von seinem Versteck erfahren.
In den übrigen Nächten saß Novák auf der Brücke, allein mit der Moldau als Gefährtin. Ihr Plätschern war seine Gesellschaft. Wie er hatte sie alles gesehen und gehört. Wie ihn konnte sie nichts mehr überraschen. Sie litten gemeinsam und wurden zusammen alt. Sie waren immer da. Gerade baute man schon wieder eine neue Badeanstalt unterhalb vom Vyšehrad. Ab dem Sommer würden sich die Besseren und Betuchten dort amüsieren. Novák verstand