ERSTES KAPITEL
»Ich möchte Venedig daraufhin ansehn,
ob ich dort längere Zeit leben könnte«
Präludium
Im Wintersemester1878/79 ist Nietzsches Gesundheit auf einem Tiefpunkt angelangt. Seit zehn Jahren ist er Professor für klassische Philologie in Basel und gerade erst vierunddreißig Jahre alt. Selbst sein engster Freund und Vertrauter, der Basler Kirchenhistoriker Franz Overbeck, befürchtet, er könne nicht einmal die zweite Hälfte des Semesters überstehen. Auf alle Fälle möchte Overbeck Vorsorge treffen für die anschließenden Osterferien, und so erkundigt er sich bei Heinrich Köselitz, dem zehn Jahre jüngeren Schüler Nietzsches, der inzwischen als Musiker in Venedig lebt, ob es möglich wäre, dass der kranke Freund die Ferien bei ihm in der Lagunenstadt verbringe: »Gerne wäre er mit Ihnen dort zusammen, und wir erführen daher ebenfalls gern durch Sie, was Sie uns etwa Genaueres über die Einwirkung der Luft zu besagter Jahreszeit mitzutheilen wüssten«,[1] schreibt Overbeck, da Nietzsche zu diesem Zeitpunkt kaum in der Lage ist, selbst Briefe zu schreiben. Seine fast väterliche Fürsorge hat etwas Rührendes. Die Antwort aus Venedig lässt allerdings auf sich warten. Erst sechs Wochen später berichtet Köselitz, die Lagunenstadt gelte als »klimatischer Cur-Ort« neben Nizza. Dabei beruft er sich nicht wie üblich auf denBaedeker als Reiseführer, sondern auf seinen Basler Kollegen, den Kunsthistoriker, Mediziner und Reiseschriftsteller Theodor Gsell-Fels, welcher von 1870 bis 1880 an der Universität Basel italienische Kunstgeschichte gelehrt hat und Mitglied des großen Rats gewesen ist: »Der Dr. med. Gsellfels sagt: das Klima sei nicht gut für Erschlaffte, Skrophulöse und Chloritische.«[2]
Er selbst, betont Köselitz jedoch, habe sich in Venedig jederzeit wohler gefühlt als »in Basel und Florenz; der venezianische Sommer ist milder und bei weitem angenehmer als z. B. der baseler; bekanntlich sind an den Küsten die Jahreszeiten temperirter, als im Binnenland, der Sommer weniger heiss, der Winter weniger kalt. Den ganzen Sommer über habe ich in Venedig jede helle Nacht unter freiem Himmel geschlafen, was ich in keiner anderen Stadt hätte wagen dürfen. Im Mai beginnen nämlich die Zanzaren [die Stechmücken] zu kommen«, doch dann begebe er sich einfach auf die Altane über dem Dach seines Hauses, wo es den Zanzaren zu zugig sei. Er liebe Venedig außerordentlich, »nicht nur weil es so eindringlich auf die Stimmung wirkt«, sondern auch, weil es ganz »ohne Staub und ohne Wagengerassel« ist und dadurch »dem Ideal einer Stadt schon um vieles näher rückt«. Außerdem seien »die Menschen dort von einer ungemein wohlthuenden Naivetät, von anderem Erfreulichen ganz zu schweigen.« Jacob Burckhardt habe ihm noch eingeschärft, sich »in Venedig vor der Zugluft in Acht zu nehmen«, Nietzsche solle auf alle Fälle seinen »Sommerüberzieher« mitnehmen, denn des »Aufhörens der wirklichen Winterkälte« dürfe man sich erst Ende März gewiss sein. Natürlich würde es ihn unaussprechlich freuen und ehren, wenn Herr Prof. Nietzsche ihn in Venedig aufsuchen wollte.[3] Seiner Braut Cäcilie Gussenbauer berichtet Köselitz umgehend, sie könne sich gar nicht vorstellen, wie sehr ihn die Ankündigung von Nietzsches Osterbesuch freue.[4]
Köselitz, der Nietzsche als eine Art Eckermann bereits in Basel als Vorleser und Sekretär gedient und fast alle Druckmanuskripte für ihn erstellt hatte, ist auch in Venedig, wo er sich 1878 dauerhaft als Musiker niedergelassen hat, weiterhin mit Nietzsches Manuskripten beschäftigt. Mitte März 1879 erschienen dieVermischten Meinungen und Sprüche als Anhang zuMenschliches, Allzumenschliches,<