: Renate Müller-Buck
: »... zitternd vor bunter Seligkeit« Nietzsche in Venedig
: Wallstein Verlag
: 9783835386518
: 1
: CHF 23.60
:
: Sprach- und Literaturwissenschaft
: German
: 199
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der Philosoph und die Lagunenstadt - die Nietzsche-Kennerin Renate Müller-Buck hat sich auf Spurensuche begeben Zwischen 1880 und 1887 verbrachte Friedrich Nietzsche insgesamt fünfmal eine längere Zeit in Venedig. Es war die einzige Stadt, die er liebte, ein »geweihter Ort« für sein Gefühl und als Ort der '100 tiefen Einsamkeiten' ein 'Bild für die Menschen der Zukunft'. Empfangen und umsorgt wurde er dabei von dem Musiker Heinrich Köselitz, dessen Lehrer er an der Universität Basel war. Ausgehend von Nietzsches Briefen sowie von Berichten und Erinnerungen seiner Freunde und Weggefährten vermittelt Renate Müller-Buck ein Bild vom Alltag des Philosophen in Venedig und von der vielfältigen Bedeutung, die die Lagunenstadt in seinem Denken einnimmt. Wir begleiten ihn durch die schattigen Gässchen mit ihrem 'regelmäßigen Trachytsteinpflaster', das er als 'Dreiviertelblinder' besonders liebt und folgen ihm in die Calle nova, wo Köselitz in seinem Zimmer ganze Vormittage für ihn musiziert. Und wir blättern mit ihm in seinen Venedig-Lektüren: Lord Byron, George Sand, Stendhal. Die ausgewiesene Nietzsche-Kennerin Renate Müller-Buck wirft einen ebenso kenntnisreichen wie intimen Blick auf den Menschen Nietzsche und bietet gleichzeitig ein besonderes Bild Venedigs im ausgehenden 19. Jahrhundert.

Renate Müller-Buck studierte Germanistik und Amerikanistik in Tübingen und Berkeley. Von 1980 bis 1985 war sie Lektorin für Deutsche Sprache und Literatur am Germanistischen Seminar der Universität Florenz bei Mazzino Montinari, danach wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Berlin zur Erstellung der Nachberichtbände zur historisch-kritischen Ausgabe des Nietzsches Briefwechsels von Colli und Montinari. Weiterhin ist sie als Übersetzerin aus dem Italienischen und Französischen tätig, verfasste umfangreiche Rundfunkessays und wirkte 2017 an einer ARTE-Doku über Nietzsche und die Fälschungen seiner Schwester mit.

 

 

 

ERSTES KAPITEL


»Ich möchte Venedig daraufhin ansehn,
ob ich dort längere Zeit leben könnte«


Präludium


 

 

 

Die Tauben von San Marco

 

 

 

Im Wintersemester1878/79 ist Nietzsches Gesundheit auf einem Tiefpunkt angelangt. Seit zehn Jahren ist er Professor für klassische Philologie in Basel und gerade erst vierunddreißig Jahre alt. Selbst sein engster Freund und Vertrauter, der Basler Kirchenhistoriker Franz Overbeck, befürchtet, er könne nicht einmal die zweite Hälfte des Semesters überstehen. Auf alle Fälle möchte Overbeck Vorsorge treffen für die anschließenden Osterferien, und so erkundigt er sich bei Heinrich Köselitz, dem zehn Jahre jüngeren Schüler Nietzsches, der inzwischen als Musiker in Venedig lebt, ob es möglich wäre, dass der kranke Freund die Ferien bei ihm in der Lagunenstadt verbringe: »Gerne wäre er mit Ihnen dort zusammen, und wir erführen daher ebenfalls gern durch Sie, was Sie uns etwa Genaueres über die Einwirkung der Luft zu besagter Jahreszeit mitzutheilen wüssten«,[1] schreibt Overbeck, da Nietzsche zu diesem Zeitpunkt kaum in der Lage ist, selbst Briefe zu schreiben. Seine fast väterliche Fürsorge hat etwas Rührendes. Die Antwort aus Venedig lässt allerdings auf sich warten. Erst sechs Wochen später berichtet Köselitz, die Lagunenstadt gelte als »klimatischer Cur-Ort« neben Nizza. Dabei beruft er sich nicht wie üblich auf denBaedeker als Reiseführer, sondern auf seinen Basler Kollegen, den Kunsthistoriker, Mediziner und Reiseschriftsteller Theodor Gsell-Fels, welcher von 1870 bis 1880 an der Universität Basel italienische Kunstgeschichte gelehrt hat und Mitglied des großen Rats gewesen ist: »Der Dr. med. Gsellfels sagt: das Klima sei nicht gut für Erschlaffte, Skrophulöse und Chloritische.«[2]

Er selbst, betont Köselitz jedoch, habe sich in Venedig jederzeit wohler gefühlt als »in Basel und Florenz; der venezianische Sommer ist milder und bei weitem angenehmer als z. B. der baseler; bekanntlich sind an den Küsten die Jahreszeiten temperirter, als im Binnenland, der Sommer weniger heiss, der Winter weniger kalt. Den ganzen Sommer über habe ich in Venedig jede helle Nacht unter freiem Himmel geschlafen, was ich in keiner anderen Stadt hätte wagen dürfen. Im Mai beginnen nämlich die Zanzaren [die Stechmücken] zu kommen«, doch dann begebe er sich einfach auf die Altane über dem Dach seines Hauses, wo es den Zanzaren zu zugig sei. Er liebe Venedig außerordentlich, »nicht nur weil es so eindringlich auf die Stimmung wirkt«, sondern auch, weil es ganz »ohne Staub und ohne Wagengerassel« ist und dadurch »dem Ideal einer Stadt schon um vieles näher rückt«. Außerdem seien »die Menschen dort von einer ungemein wohlthuenden Naivetät, von anderem Erfreulichen ganz zu schweigen.« Jacob Burckhardt habe ihm noch eingeschärft, sich »in Venedig vor der Zugluft in Acht zu nehmen«, Nietzsche solle auf alle Fälle seinen »Sommerüberzieher« mitnehmen, denn des »Aufhörens der wirklichen Winterkälte« dürfe man sich erst Ende März gewiss sein. Natürlich würde es ihn unaussprechlich freuen und ehren, wenn Herr Prof. Nietzsche ihn in Venedig aufsuchen wollte.[3] Seiner Braut Cäcilie Gussenbauer berichtet Köselitz umgehend, sie könne sich gar nicht vorstellen, wie sehr ihn die Ankündigung von Nietzsches Osterbesuch freue.[4]

Köselitz, der Nietzsche als eine Art Eckermann bereits in Basel als Vorleser und Sekretär gedient und fast alle Druckmanuskripte für ihn erstellt hatte, ist auch in Venedig, wo er sich 1878 dauerhaft als Musiker niedergelassen hat, weiterhin mit Nietzsches Manuskripten beschäftigt. Mitte März 1879 erschienen dieVermischten Meinungen und Sprüche als Anhang zuMenschliches, Allzumenschliches,<