Die dunkle Seite des Mondes
Melinda M. Snodgrass
Irgendwo rechts von ihr fielen Schüsse.
Überall sonst auf der Welt hätten die Leute bei diesem Geräusch die Flucht ergriffen, aber hier in Bagdad war es nur eine von vielen Stimmen in der Symphonie der Festlichkeiten. Das Rattern eines Maschinengewehrs bildete einen schrillen Kontrapunkt zum dröhnenden Bass der Raketen. Goldene Funken wurden an den Nachthimmel gesprüht und umgaben die nadelspitzen Minarette wie Heiligenscheine. Wie in Zeitlupe schienen sie herabzuschweben. Kurz beschienen die Lichter des Feuerwerks die Gesichter in der Menschenmenge. Männer wirbelten tanzend umher, glitzernde Tränen auf den Wangen. Mit weit aufgerissenen Mündern sangen sie zum Ruhm ihres Kalifen.
Kamal Faraq Aziz, der neue ägyptische Präsident, war nach Bagdad gekommen, um sich dem Kalifen zu unterwerfen und sein Land mit den Nationen Syriens, Palästinas, Iraks, Jordaniens und Saudi-Arabiens zum wiedererstandenen Kalifat zu vereinigen. In Kairo, Bagdad, Damaskus, Ostjerusalem und Mekka feierten die Massen. In Libanon, Katar und Kuwait erzitterten die Führer der wenigen verbliebenen souveränen Einzelstaaten Arabiens.
Lilith zog ihren Shemag über Nase und Mund. Zum einen, um die Tatsache zu verschleiern, dass sie eine Frau war, aber auch zum Schutz gegen den von tausend trampelnden Füßen aufgewirbelten Staub, der sie zu ersticken drohte. Nur im Irak konnte man den feuchten, stechenden Geruch von Wasser und Schilf in der Nase haben, dabei auf Sand beißen und nächtliche Temperaturen von über fünfunddreißig Grad erleiden. Das Gewand klebte ihr am Leib, und sie spürte, wie ihr der Schweiß unangenehm die Wirbelsäule hinunterlief. Als Saddam noch im Palast lebte, hatten sich die Felder um das Gebäude in üppige Gärten verwandelt. Doch der Kalif hatte beschlossen, den irakischen Bauern kein Wasser wegzunehmen, und ließ die Gärten verdorren.
Von ihrem Aussichtspunkt nahe der Gartenmauer hatte Lilith einen guten Blick auf das massige Palastgebäude. Das Feuerwerk tauchte die weißen Marmormauern in ein Kaleidoskop aus Farben. Ein Mann in weißem Gewand und einer Kufiya auf dem Kopf trat auf einen Balkon im dritten Stock. Er ging hin und her, legte die Hand auf die gemeißelte Balustrade, sah in die Menschenmenge hinunter, ging erneut hin und her und verschwand schließlich wieder im Haus.
Idiot, dachte Lilith.So erwischt dich noch ein Querschläger.
Sie wartete, bis besonders spektakuläre Feuerwerkskörper den Nachthimmel erleuchteten und alle mit täppischem Staunen die Köpfe in den Nacken warfen. Dann schlang sie die Falten ihrer Dishdasha und Dschallabija um sich und spürte dieses seltsame innerliche Reißen, während sich der Staub und Beton unter ihren Sandalen in weniger Staub auf poliertem Marmor verwandelte.
Prinz Siraj starrte sie mit offenem Mund an. Er sah gut aus, doch das glatte runde Gesicht und der Bauch, der sich unter dem Gewand wölbte, zeigten, dass ein reichliches Nahrungsangebot für einen Beduinen auch gewisse Risiken barg. Und da half es nicht, dass die königliche Familie Jordaniens schon seit vier Generationen nicht mehr in der Wüste lebte. Zweitausend Jahre spärliche Kost steckten ihnen tief in den Knochen, und bei jeder Mahlzeit flüsterte ihnen eine Stimme ins Ohr, dass dies auf lange, lange Zeit der letzte Bissen sein könnte.
»Hat …« Er hustete und fing noch einmal von vorn an. »Hat Noel Sie geschickt?«
»Ja, zum G