Meine Großmutter Else passte nicht an diesen Ort. Stets schien sie am falschen Platz zu sein. Die westdeutsche Provinz, wohin sie die Wogen des 20. Jahrhunderts gespült hatten, blieb ihr fremd. Wie ein Schuh, der nicht passen wollte, war es nicht ihr Ort, nicht ihr Land und nicht ihre Zeit.
Meine Großmutter entstammte einer anderen Epoche. Vieles an ihr blieb unergründlich, geheimnisvoll, exotisch und furchtbar altmodisch. In ihrem Garten wuchsen seltsame Kräuter, zu denen Boretsch, Estragon, Liebstöckel und Unmengen Dill gehörten. Dill nutzte sie als kulinarische Allzweckwaffe, die sie schonungslos einsetzte. Und der Knoblauch unterschied sie endgültig von den deutschen Köchinnen. Ihre Küche kam nicht ohne Knoblauch aus, lange bevor er – so die Legende – dank den türkischen Gastarbeitern in den deutschen Kochtöpfen Einzug hielt. Dutzende von dicken, teils noch erdigen Knoblauchknollen hingen in ihrem Freisitz – so nannte sie die überdachte Terrasse – an Haken und Schnüren von den Holzbalken. Täglich kaute sie eine Knoblauchzehe, ihr Patentrezept für eine gesunde Lebensführung. Wenn wir in den Sommerferien bei ihr Urlaub machten, saß sie abends mit uns im Freisitz unter den Knoblauchbündeln. Dann hatte sie bereits ihr Tagwerk erledigt und war eigentlich schon bettfertig. Über ihrem Nachthemd trug sie einen hellblauen gesteppten Hausmantel mit Blumenmuster, der auf uns schrecklich altertümlich wirkte. Ihre silberne Haarpracht hatte Else für die Nacht mit einem Netz bedeckt, während ihre braun-glatte Haut dick mit Nivea eingecremt war. Sie schwor auf das Original mit dem weißen Schriftzug auf blauer Dose.
Das Erscheinungsbild meiner Großmutter entsprach kaum dem einer Land-Oma ihrer Generation, von denen viele Kittelschürze trugen und geduckt gingen. Else schien vom Schicksal nicht gebeugt, sondern schritt kerzengerade durchs Leben, ohne dass es künstlich wirkte. Sie war von kleiner Statur mit vollem Busen. Ihr dunkler, mediterraner Teint wurde durch ihre grünen Augen verstärkt. Mal strahlte sie, mal lächelte sie freundlich, aber gelegentlich blickte sie auch so streng, dass sie ihr Umfeld einschüchterte. Eine aus der Zeit gefallene Dame, die meistens ein Kostüm trug, manchmal moderne Hosen. Ihr Innerstes fremdelte mit dem Ort, an dem sie zu leben gezwungen war, das spürte jeder. Else kam aus der Großstadt. Gezwungenermaßen lebte sie nun in einem Dorf, doch im Herzen hielt sie der großen Stadt – ihrer Stadt – die Treue: Lodz.
Mit jedem Satz verriet sie sich. Ein merkwürdiges Deutsch. Manchmal fanden wir es ulkig, manchmal war es uns einfach peinlich. Seltsame Wörter kamen über ihre Lippen, die sie aus ihrer Vergangenheit mitgebracht hatte und mit tiefer Stimme klar und deutlich betonte. Ihr R rollte sie halsbrecherisch hart, sprach vonHiehnern undKiehen, von derTramwaj, vonGamaschen undManchesterhosen, ein wenig war bei ihra bissl, den Teekessel nannte sieczajnik. Die Enkel waren ihrewnuczki, Bonbonslandrinkes – ich erinnere mich besonders an die polnischen Kuhbonbons,krówki, die an den Zähnen klebten –, das Finanzamt dasurząd skarbowy. Else sprach das Amalgam einer multiethnischen Textilmetropole, die Mundart der deutschsprachigen Minderheit im polnischen Lodz, einen Dialekt, der gespeist war aus verschiedenen deutschen Mundarten, gespickt mit polnischen und jiddischen Wörtern.
Lodz, daspolnische Manchester, wie manche die zweitgrößte Stadt Polens nannten, war ihr ganzer Stolz. Dorthin führten alle ihre Erzählungen. Bereits als Kind kannte ich die Straßen jener Stadt im fernen Osten, ohne je dort gewesen zu sein. Ihre Namen klangen wie Musik in meinen Ohren. Ausgangspunkt war stets die schnurgerade Hauptstraße, die die Metropole von Süd nach Nord durchzog, diePiotrkowska, an deren Ende sich der imposante Freiheitsplatz –Plac Wolności – mit Rathaus und evangelischer Trinitatiskirche anschloss. Den großen Markt im weitgehend jüdisch geprägtenBałuty, denBałucki Rynek, den ElseBazares nannte, ste