Dienstag, 7. Januar 1992
Nacht
Wie ein Stofffetzen flatterte die junge Frau durch die Nacht. Sie hieß Elizabeth, war blond und trug eine Sonnenbrille. Die Idee mit der Sonnenbrille hatte sie aus einem Vampirfilm, und den Kunden schien es zu gefallen. Sie dachte: So viel Licht … Dann entglitten ihr die weiteren Worte, und Elizabeth musste sich neu sortieren.
Der Mann im blauen Peugeot 106 hatte ein Allerweltsgesicht, die schwarzen Haare waren zu einem rechten Seitenscheitel frisiert. Er trug Jeans und eine Skijacke. Sehr gesprächig war er nicht, nach einer kurzen Absprache stieg sie ein. Das war’s.
Elizabeth schwieg ebenfalls, sie genoss es, wie das Blut wieder durch ihren steifgefrorenen Körper floss, doch die Wärme im Wageninneren brachte nicht nur das Gefühl in den Händen und Füßen zurück, sondern auch den Juckreiz. Die junge Frau mit der Sonnenbrille zögerte. Sie wollte nicht, dass der Freier dachte, sie habe Flöhe. Oder Aids. Der Juckreiz kam vom verdammten Entzug, da war sie sicher, und der würde mit dem Kunden zu Ende sein. Elizabeth wusste auch das. Deshalb: nicht kratzen.
Der Juckreiz wurde stärker. Dann quälend. Schließlich unerträglich.
Aus dem Augenwinkel warf Elizabeth dem Mann am Steuer einen prüfenden Blick zu. Er schien sich nicht um sie zu kümmern. Jetzt oder nie, dachte sie. Mit gewollt koketter Geste fuhr sie sich mit der Hand durchs Haar. Die billigen Armreifen klirrten, die Finger fanden ihr Ziel, die Nägel bohrten sich in die verkrustete Kopfhaut und kratzten sie wieder auf. Das Bluten löste das Problem nicht, aber es gab ihr die Illusion der Erleichterung. Immerhin.
Inzwischen war die Seilbahn am Ende der Via Renon in Sicht gekommen, die um diese Zeit nicht in Betrieb war. Elizabeth setzte die Sonnenbrille ab und enthüllte ihre blauen Augen mit den goldenen Sprenkeln. Dann lächelte sie, denn sie wusste, dass die Kunden das mochten.
»Schauen wir mal, ob dahinten Platz ist«, sagte sie und deutete nach rechts auf die Mobil-Tankstelle.
Der Mann am Steuer parkte den Peugeot, den Motor ließ er laufen. Er hatte die Hand am Zündschlüssel, runzelte die Stirn, beugte sich nach vorne, bis der Brustkorb auf dem Lenker lag, Elizabeth folgte seinem Blick. Zwanghaft: es war wie der Juckreiz, sie konnte nicht anders. Sie sah einen Haufen Müll, der mit einem Tuch abgedeckt war, vielleicht rot, vielleicht schwarz. Schwer zu beurteilen, die Straßenlaterne war kaputt.
Der Kunde wirkte wie in Trance. Aber Elizabeth brauchte ihren Schuss.
»Hey, Schätzchen, hast du mich vergessen?«
Der Mann zuckte zusammen.
Geweitete Pupillen, stockende Atemzüge. Wie ein Tier in der Falle. Er beugte sich über sie, griff an die Beifahrertür, löste ihren Sicherheitsgurt und gab ihr einen Stoß.
»Raus«, zischte er, »raus, raus,raus.«
Elizabeth gehorchte.
Der Peugeot verschwand, und Elizabeth war wieder allein. Wieder: wie ein Stofffetzen durch die Nacht flatternd. Wieder: in der Kälte. Es war wie immer. Sie wusste nicht, wo sie einen Fehler gemacht hatte. Oder wann. Oder warum.
Ernüchtert betrachtete sie die mit Schnee bedeckten Berghänge, auf denen sich das Mondlicht spiegelte. Sie begriff, dass es nicht das Licht, sondern die Reflexion einer Reflexion war. Ein Spuk. In der Realität war die Welt um sie herum finster, und endlich konnte sie den Satz zu Ende führen, der sie die ganze Zeit nicht losgelassen hatte. So viel Licht … das war falsch.
In diesem Moment erkannte sie, was sie wegen des fehlenden Schusses nicht hatte beurteilen können. Das Tuch war kein Tuch, und der Haufen war kein Müll. Das Tuch war ein Mäntelchen wie das von Rotkäppchen, und darunter lag ein Körper. Leblos. Eine Leiche.
Elizabeths Schreie schrillten wie Polizeisirenen. Ihre Angst vertrieben sie nicht, sie erweckten die Tote nicht zum Leben, aber sie erregten Aufmerksamkeit. Als Antwort auf ihr Geschrei drang aus einem der umstehenden Mietshäuser eine wütende Männerstimme: »Verreckt doch woanders, ihr Scheißhuren!« Elizabeth lief an der Tankstelle vorbei, torkelte auf die andere Straßenseit