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An unserer Schule sahen die Mädchen meiner Klassenstufe in ihren bunten Nickis alle gleich aus, mit ihren straff nach unten gekämmten Haaren, die schnurgerade an den Wangen aufhörten, als hätte ihnen jemand beim Schneiden eine Salatschüssel übergestülpt. Die Älteren trugen Pferdeschwanz und Micky-Maus-Motive aus den neuen Katalogen. Katja war anders. Sie schnitt auf dem Pausenhof ihre Locken mit einer Bastelschere extra schief und wickelte bunte Halstücher zu Stirnbändern. Einzelne Strähnen filzte sie mit der Bürste aus ihrem Sportbeutel und verzierte sie mit den biegbaren Silberaufsätzen von Einwegfeuerzeugen. Die rechteckigen Metallteile klemmten sogar überall an ihrer Kleidung. Am Saum ihrer Fliegerjacke, am Schaft ihrer Schnürstiefel und sogar an den Reißverschlussseiten der runden Federtasche aus Leder, die wir alle hatten. Nur war Katjas mit Sprühfarbe bemalt. Sie spielte in den großen Pausen nicht Fangen oder Gummitwist wie die anderen, sondern versteckte sich hinter irgendeiner Hecke und rauchte Schmuggelzigaretten mit den Jungs aus der Zehnten.
Katja und Bine waren in der Nachbarklasse, und alle Mädchen hatten Angst vor ihnen. Sogar die Lehrer kuschten, wenn sie sich auf der einzigen Tischtennisplatte breitmachten und eins der verbotenen Taschenradios aufdrehten. Normalerweise nahmen sie die Geräte sofort an sich und räumten sie bis zur nächsten Elternversammlung ins Lehrerzimmer. Weil beide das Schuljahr wiederholen mussten, starteten wir zum ersten Mal gegeneinander beim Thälmann-Lauf, der die Ortsmitte jeden Sommer in eine Rennstrecke verwandelte. Das Rennen begann mit feierlichem Schulappell am zentralen Festplatz neben der St.-Nikolaus-Kirche, auf deren Hof Tante Fuchs und ich den verendeten Dackel im Schatten einer Rotbuche beerdigt hatten. Die Läufer schlängelten sich durch die Hauptstraße bergauf, vorbei am Schrauben-Hiller, an der Wäscherei Brunig und der Gaststätte Bandauer, bis die Tour am Schuttkontor außerhalb des Orts an der Stelle endete, wo die Kanalschiffer einfuhren. Insgesamt 4,2 Kilometer Schweiß, der auf den Filzdecken eines Massenpicknicks versiegte, an dem die Eltern früher nur teilgenommen hatten, um heimlich untereinander Westwaren auszutauschen, jedenfalls meinte das mein Vater. In diesem Jahr wurde das Fest vom Rohbau eines skandinavischen Bettenlagers überschattet, neben dem zum Ärger von Schrauben-Hiller ein Baumarkt mit angeschlossenem Gartencenter eröffnet hatte.
Katja gehörte immer zu den Besten. Sie lief direkt hinter mir, und ich lauschte, wie ihr Atem schwerer wurde. Ich rannte in ihrem Schattenwurf, der fast senkrecht auf meinem lag, und rechnete damit, jeden Moment von ihr überholt zu werden. Wurde ihr Keuchen leiser, ließ ich mich zurückfallen, bis sich ihre Silhouette wieder vor mir auf dem Asphalt abzeichnete. Ich hörte, wie ihre Sohlen die losen Kiesel wegtraten und ihr Schnaufen dumpfer wurde, wenn sie sich das Gesicht am Saum ihres T-Shirts abwischte. Es klang wie ein hastiger Spaziergang durch Tiefschnee, bei dem sie immer wieder ein »Ha« ausstieß, wenn ihre Kräfte nachließen. Kurz nach der Zielgeraden umarmte nicht sie mich, sondern meine Klassenlehrerin und drückte mir einen Korb mit Mineralwasser in die Hand, um die Flaschen an diejenigen zu verteilen, die hinter mir eintrudelten. Als wir uns bei der Siegerehrung nebeneinander einfanden, um unsere Urkunden entgegenzunehmen, riss sie mir meine sofort aus der Hand und kreischte: »Zwei Sekunden? Du blöde Kuh!«, und ich war stolz. Zum ersten Mal war ich das Tagesgespräch der Schule, und Katja schien beeindruckt, dass ihr jemand das Wasser reichen konnte. Eine Woche später konnte ich in der Siegergalerie mein Bild bewundern, das genau neben ihrem aufgehängt wurde. Auf dem Porträt des Schulfotografen wirkte mein Überbiss noch schlimmer als in echt, doch beim stufenübergreifenden Zirkeltraining für die Kinder- und Jugendsportspiele spürte ich trotzdem vom anderen Ende der Turnhalle Katjas Blick im Rücken.
In der Umkleide zog sie sich immer dann aus, wenn ich gerade hinsah. Sie war die Einzige, die schon einen echten Büstenhalter tragen konnte. Über den Waschbecken vernebelte der Wasserdampf die Sicht, Katja vornübergebeugt mit einem Stück Seife in der Hand, Schaum unter den Achseln. Ich zählte jeden ihrer Wirbel und stützte mich an die beschlagenen Fliesen, um nicht auszurutschen. Trafen sich unsere Augen, schoss mir das Blut bis in die Haarspitzen. Ich versteckte mich so gut es ging hinter dem Stoff meines Waschlappens, aus Angst, Katja könnte sich an den Monaten stören, die unsere Körper voneinander trennten.
»Kein Wunder, dass deine Mutter abgehauen ist, Pilly! Hätte mein Kind so eine Pferdefresse, würde ich mich auch voll schämen!«
Marijan und Jonathan nutzten die Pausen, um mich zu ärgern, weil sie sich vor unserer Klassenlehrerin Frau Leopold nicht trauten.