: Patricia Hempel
: Verlassene Nester Roman
: Tropen
: 9783608123647
: 1
: CHF 17.10
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 304
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»Wie Patricia Hempel über den Verlust der Unschuld und über die Nachwendezeit schreibt, ist ein Ereignis.« Florian Valerius Sommer 1992 im ehemaligen Elbe-Grenzgebiet. Pilly ist dreizehn und sehnt sich nach Zugehörigkeit. Aber auch zwei Jahre nach der Wiedervereinigung hängt ihre Familie noch immer an den Idealen von Gestern. Der Vater flüchtet in die Gaststätte, die Tanten träumen vom Goldenen Westen und von Pillys Mutter fehlt nach wie vor jede Spur. Halt findet Pilly nur in der älteren Mitschülerin Katja. Ein Trugschluss. Sie ahnt nicht, dass am Ende dieses Sommers ihre Welt abermals eine andere sein wird. Die Mischanlagen und Fließbänder des Betonwerks stehen still. Ebenso wie das Leben der Menschen in dem fiktiven Planort an der Elbe. Während Pilly um jeden Preis versucht, die Aufmerksamkeit der älteren Schulkameradin Katja zu gewinnen, trinkt ihr Vater gegen die Erinnerungen an. Die Mutter ist schon lange weg, angeblich im Westen, auch wenn darüber eisernes Schweigen herrscht. Die Tanten wollen sich den Traum vom Goldenen Westen verwirklichen und setzen dabei ihre Lebensgrundlage aufs Spiel. Der Sommer nimmt eine drastische Wende, als eines Tages die Gärten der vietnamesischen Vertragsarbeiter abbrennen und Pilly plötzlich einer Frau gegenübersteht, die behauptet, ihre Mutter zu sein. »Patricia Hempel ist eine Meisterin des Untergründigen. Lebenslust und Lebenslügen verwachsen in diesem Roman zu einem beängstigenden Gestrüpp.« Katja Kullmann

Patricia Hempel, geboren 1983 in Berlin, studierte erst Ur- und Frühgeschichte, bis es sie von der Archäologie zum Studium Literarisches Schreiben/Lektorat an die Universität Hildesheim zog. 2017 erschien bei Tropen/Klett-Cotta ihr erster Roman 'Metrofolklore?. Sie ist seit 2020 Redaktionsmitglied des queeren Literaturmagazins GLITTER und setzt sich in der Queer Media Society (QMS) als Netzwerkerin für queere Sichtbarkeit und Diversität in Literaturbetrieb und Buchhandel ein. Sie ist Gründungsmitglied des PEN Berlin und beteiligt sich an der AG Diversität. Ihre Texte erschienen in diversen Magazinen und Anthologien, zuletzt in 'Neue Schule - Prosa für die nächste Generation' Claassen/Ullstein (2021) und im Literaturboten 141 - Writing with Care (2023). Ihr aktueller Roman 'Verlassene Nester' wurde von der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt mit dem Stipendium für deutschsprachige Literatur gefördert und war für den Alfred-Döblin-Preis 2023 nominiert.    

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An unserer Schule sahen die Mädchen meiner Klassenstufe in ihren bunten Nickis alle gleich aus, mit ihren straff nach unten gekämmten Haaren, die schnurgerade an den Wangen aufhörten, als hätte ihnen jemand beim Schneiden eine Salatschüssel übergestülpt. Die Älteren trugen Pferdeschwanz und Micky-Maus-Motive aus den neuen Katalogen. Katja war anders. Sie schnitt auf dem Pausenhof ihre Locken mit einer Bastelschere extra schief und wickelte bunte Halstücher zu Stirnbändern. Einzelne Strähnen filzte sie mit der Bürste aus ihrem Sportbeutel und verzierte sie mit den biegbaren Silberaufsätzen von Einwegfeuerzeugen. Die rechteckigen Metallteile klemmten sogar überall an ihrer Kleidung. Am Saum ihrer Fliegerjacke, am Schaft ihrer Schnürstiefel und sogar an den Reißverschlussseiten der runden Federtasche aus Leder, die wir alle hatten. Nur war Katjas mit Sprühfarbe bemalt. Sie spielte in den großen Pausen nicht Fangen oder Gummitwist wie die anderen, sondern versteckte sich hinter irgendeiner Hecke und rauchte Schmuggelzigaretten mit den Jungs aus der Zehnten.

Katja und Bine waren in der Nachbarklasse, und alle Mädchen hatten Angst vor ihnen. Sogar die Lehrer kuschten, wenn sie sich auf der einzigen Tischtennisplatte breitmachten und eins der verbotenen Taschenradios aufdrehten. Normalerweise nahmen sie die Geräte sofort an sich und räumten sie bis zur nächsten Elternversammlung ins Lehrerzimmer. Weil beide das Schuljahr wiederholen mussten, starteten wir zum ersten Mal gegeneinander beim Thälmann-Lauf, der die Ortsmitte jeden Sommer in eine Rennstrecke verwandelte. Das Rennen begann mit feierlichem Schulappell am zentralen Festplatz neben der St.-Nikolaus-Kirche, auf deren Hof Tante Fuchs und ich den verendeten Dackel im Schatten einer Rotbuche beerdigt hatten. Die Läufer schlängelten sich durch die Hauptstraße bergauf, vorbei am Schrauben-Hiller, an der Wäscherei Brunig und der Gaststätte Bandauer, bis die Tour am Schuttkontor außerhalb des Orts an der Stelle endete, wo die Kanalschiffer einfuhren. Insgesamt 4,2 Kilometer Schweiß, der auf den Filzdecken eines Massenpicknicks versiegte, an dem die Eltern früher nur teilgenommen hatten, um heimlich untereinander Westwaren auszutauschen, jedenfalls meinte das mein Vater. In diesem Jahr wurde das Fest vom Rohbau eines skandinavischen Bettenlagers überschattet, neben dem zum Ärger von Schrauben-Hiller ein Baumarkt mit angeschlossenem Gartencenter eröffnet hatte.

Katja gehörte immer zu den Besten. Sie lief direkt hinter mir, und ich lauschte, wie ihr Atem schwerer wurde. Ich rannte in ihrem Schattenwurf, der fast senkrecht auf meinem lag, und rechnete damit, jeden Moment von ihr überholt zu werden. Wurde ihr Keuchen leiser, ließ ich mich zurückfallen, bis sich ihre Silhouette wieder vor mir auf dem Asphalt abzeichnete. Ich hörte, wie ihre Sohlen die losen Kiesel wegtraten und ihr Schnaufen dumpfer wurde, wenn sie sich das Gesicht am Saum ihres T-Shirts abwischte. Es klang wie ein hastiger Spaziergang durch Tiefschnee, bei dem sie immer wieder ein »Ha« ausstieß, wenn ihre Kräfte nachließen. Kurz nach der Zielgeraden umarmte nicht sie mich, sondern meine Klassenlehrerin und drückte mir einen Korb mit Mineralwasser in die Hand, um die Flaschen an diejenigen zu verteilen, die hinter mir eintrudelten. Als wir uns bei der Siegerehrung nebeneinander einfanden, um unsere Urkunden entgegenzunehmen, riss sie mir meine sofort aus der Hand und kreischte: »Zwei Sekunden? Du blöde Kuh!«, und ich war stolz. Zum ersten Mal war ich das Tagesgespräch der Schule, und Katja schien beeindruckt, dass ihr jemand das Wasser reichen konnte. Eine Woche später konnte ich in der Siegergalerie mein Bild bewundern, das genau neben ihrem aufgehängt wurde. Auf dem Porträt des Schulfotografen wirkte mein Überbiss noch schlimmer als in echt, doch beim stufenübergreifenden Zirkeltraining für die Kinder- und Jugendsportspiele spürte ich trotzdem vom anderen Ende der Turnhalle Katjas Blick im Rücken.

In der Umkleide zog sie sich immer dann aus, wenn ich gerade hinsah. Sie war die Einzige, die schon einen echten Büstenhalter tragen konnte. Über den Waschbecken vernebelte der Wasserdampf die Sicht, Katja vornübergebeugt mit einem Stück Seife in der Hand, Schaum unter den Achseln. Ich zählte jeden ihrer Wirbel und stützte mich an die beschlagenen Fliesen, um nicht auszurutschen. Trafen sich unsere Augen, schoss mir das Blut bis in die Haarspitzen. Ich versteckte mich so gut es ging hinter dem Stoff meines Waschlappens, aus Angst, Katja könnte sich an den Monaten stören, die unsere Körper voneinander trennten.

»Kein Wunder, dass deine Mutter abgehauen ist, Pilly! Hätte mein Kind so eine Pferdefresse, würde ich mich auch voll schämen!«

Marijan und Jonathan nutzten die Pausen, um mich zu ärgern, weil sie sich vor unserer Klassenlehrerin Frau Leopold nicht trauten.