Der Sinn des Lebens
Eigentlich hatten sie sich im Toby’s ein Bier holen wollen, stattdessen kamen sie mit einem Baby nach Hause, und damit waren sie auch einverstanden. Myriam und Allison hatten bisher noch nicht über Kinder geredet, aber jetzt hatten sie eins gefunden, und vielleicht hieß das ja, dass der richtige Zeitpunkt gekommen war. Als Lesben ersparten sie sich so außerdem die Mühe einer Adoption und brauchten auch keinen ihrer Freunde zu überreden, mit ihnen zu schlafen.
Sie fanden das Kind in der Gasse hinter ihrem Wohnblock, neben einem ausgeweideten Sofa, Konfetti und Blut bedeckten den Boden. Hinter dem Toby’s hatte eine Schlägerei stattgefunden – während der Stand-up Comedy Night, ausgerechnet. So war das Toby’s. Myriam und Allison inspizierten das Sofa, ob es sich vielleicht in ein Kunstwerk verwandeln ließ, und bemerkten strampelnde Füßchen in einem Flanellkokon. Allison putzte ihre Brille, Myriam kniete sich hin und pikste das Bündel.
»Guck mal, wie ernst das Baby ist.« Myriam lachte. Sie strich ihm mit dem Finger über die runden Bäckchen und die gerunzelte Stirn. »Wie süß, ich liebe dieses Baby.«
»Es ist auf jeden Fall ein kritischer Denker«, pflichtete Allison ihr bei. »Mit so einem Baby ließe sich’s aushalten.«
Sie nahmen das Kind mit nach Hause und badeten es im Spülbecken. Sie rieben es sauber, bis es warm und zufrieden war, rubbelten es mit einem Geschirrhandtuch ab und schnupperten abwechselnd an seinem kleinen Kopf. Er roch nach Spülmittel, Duftnote Grüner Apfel.
Sie wickelten das Kind in einen Pullover und zeigten ihm die Wohnung. Die enge Küche mit der Zitronenscheibentapete. Die Boggle-Ecke. Die kaputten Spielsachen, die Allison in der Gasse fand und als Instrumente benutzte, und das Bad, dessen Wände mit roten Lippenstiftgedichten bedeckt waren, weil Myriam sich oft von der leeren Seite tyrannisiert fühlte und lieber im Bad schrieb. Dem Baby gefiel die Wohnung sehr gut. Es gluckste, streckte die Finger aus und wollte alles in den Mund stecken.
Sie polsterten neben ihrem Bett eine Rubbermaid-Box mit Decken aus, brachten es aber nicht übers Herz, ihren neuen Sohn hineinzulegen. Also kuschelten sie sich von beiden Seiten an ihn und schliefen ein, Haut an Haut, warm wie Hamster.
Jonah, weil sie niemanden mit dem Namen kannten. Sie hatten keine Ahnung, was Jonahs für Typen waren, und das Überraschungsmoment daran gefiel ihnen. Sie waren nicht die Sorte Eltern, die ihr Kind Mozart oder Beyoncé nennen. Sie einigten sich sogar sofort darauf, Jonah keinen übermäßigen Erfolg zu wünschen. Von zu viel Ehrgeiz bekamen die Menschen Magengeschwüre, oder sie produzierten schlechte Kunst.
Myriams Mom war die Erste, der sie davon erzählten, am Telefon. Eine verzweifelte Frau ohne Augen in den Höhlen habe sie gebeten, das Baby mitzunehmen und als ihr eigenes aufzuziehen. Das sagten sie, weil sie wussten, Myriams Mom würde nichts kapieren und sie damit nerven, dass sie keine Anstrengungen unternommen hatten, die Eltern ausfindig zu machen.
»Kinder sind teuer«, nervte sie trotzdem. »Wie wollt ihr die Windeln und den Zahnarzt bezahlen, oder, noch schlimmer, den Kieferorthopäden? Mit Allisons Job im Callcenter?«
Myriams Mom war überzeugt, Allison müsse die Familie ernähren, weil sie Männerhemden und kurze Haare trug. Sie hatte keine Ahnung vom Lesbischsein und keine Ahnung von ihrem Leben.
»Wenn du nicht versuchst, ein bisschen positiver zu sein, erzählen wir Jonah, er hat nur eine Großmutter«, sagte Myriam und drückte sie weg.
Dagegen boten Allisons Eltern an, eine verspätete Babyparty zu schmeißen, und Myriam und Allison luden alle ihre Freundinnen und Freunde ein. Myriam trug ihr goldenes Minikleid, Allison legte eine passende Goldkette um, und Jonah steckten sie in ein weiß-goldenes Kleidchen, das sie der Jesuspuppe im Heilsarmeeladen ausgezogen hatten.
Ihre Bekannten verkündeten, Jonah sei ein sehr süßes Baby, was hieß, aus ihm würde mal ein hässlicher Erwachsener werden. Das machte Myriam und Allison nichts aus. Hässliche Menschen mussten sich bessere Witze ausdenken oder einen siebten Sinn für Mode entwickeln.
Sie saßen auf Gartenstühlen am Pool, und Allisons Eltern füllten gelegentlich die Schüsseln mit Chips auf. Niemand schwamm. Myriams und Allisons Bekannte hatten es nicht so mit Schwimmen. Sie trugen eine Menge Schminke und aufwendig zu schnürende Stiefel.
»Ich muss unbedingt eine Fotosession mit Jonah machen«, sagte ihre Trans-Freund:in Ash. »Eine Mischung aus Anne Geddes und Marina AbramovicsBalkan Baroque – kleine Hommage a