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Die Epik Homers
So sprach er und erregte ihm die Lust nach der Klage um den Vater,
Und er fasste seine Hand und stieß sanft den Alten von sich.
Und die beiden dachten: der eine an Hektor, den männermordenden,
Und weinte häufig, zusammengekauert vor den Füßen des Achilleus,
Aber Achilleus weinte um seinen Vater, und ein andermal wieder
Um Patroklos …
Homer, Ilias 24,507 – 512 (Übers. W. Schadewaldt)
Als Hadrian durch Griechenland reiste, machte er im Jahr 125 Halt in Delphi, dem berühmtesten Orakel des Landes, und richtete an Apollon, den des Orakels, die schwierigste Frage: »Wo wurde Homer geboren und wer waren seine Eltern?« Die alten Griechen selbst pflegten zu sagen: »Beginnen wir bei Homer«, und gute Gründe sprechen dafür, auch eine Geschichte der klassischen Antike mit ihm beginnen zu lassen.
Homer gehört weder in die »Morgendämmerung« der von Griechen besiedelten Welt noch an den Anfang der griechischen Sprache. Für uns ist er ein Anfang, weil in den beiden großen Epen, derIlias und derOdyssee, die ersten langen Texte in griechischer Sprache erhalten geblieben sind. Aus dem 8. Jahrhundert v. Chr., nach Ansicht der meisten Wissenschaftler die Lebenszeit Homers, liegt uns der erste Beweis für den Gebrauch des griechischen Alphabets vor, des praktischen Schriftsystems, in dem seine epischen Dichtungen überliefert wurden. Der bisher früheste Beleg stammt aus den 770er Jahren v. Chr., und mit kleinen Veränderungen wird dieses Alphabet noch heute benutzt, um neugriechisch zu schreiben. Auch vor Homer waren Griechenland und die Ägäis nicht arm an historischen Ereignissen, aber in den vorausgegangenen vier Jahrhunderten war nichts schriftlich festgehalten worden außer ansatzweise in Zypern. Die Archäologie ist unsere einzige Quelle für diese Epoche, ein »dunkles« Zeitalter – für uns, doch nicht »dunkel« für die Menschen, die damals lebten. Die Archäologen haben zwar unser Wissen über diese Zeit erheblich ausgeweitet, aber die auf dem Alphabet beruhende Schriftlichkeit eröffnet den Historikern ein neues Spektrum von Quellenmaterial.
Nun waren Homers epische Gesänge allerdings keine Geschichtsschreibung, und sie beziehen sich auch nicht auf seine eigene Zeit. I