Kapitel 2
Der Körper und seine Beziehung zu Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen
Im Zusammenhang mit somatischen Belastungsstörungen und anderen Körperphänomenen steht die Arzt-/Therapeut-Patient*innen-Beziehung unter einer großen Herausforderung und Dynamik. Mentalisieren als Fähigkeit, die eigenen mentalen und körperlichen Zustände ebenso wie die der anderen wahrzunehmen und zu verstehen, um eine effektive Kommunikation aufzubauen, setzt eine angemessene therapeutische Allianz voraus. In diesem Kapitel wird beschrieben, wie Personen mit somatischen Belastungsstörungen Körperempfindungen wahrnehmen und bewerten und welche Schwierigkeiten auftreten, mit denen sowohl Ärzte als auch Patienten konfrontiert sind, komplexe Interaktionen zwischen körperlichen und psychischen Faktoren zu bewältigen. Dabei wird auf die Notwendigkeit für Angehörige der Gesundheitsberufe verwiesen, ihr eigenes Mentalisierungsversagen wahrzunehmen und zu überwinden, um die Bedürfnisse von Patienten mit somatischen Belastungsstörungen besser zu verstehen und auf sie einzugehen.
Als junger Assistenzarzt begegnete ich in einer Neurologischen Poliklinik einer etwa 50-jährigen Frau. Kurz nach meiner Begrüßung schaffte sie es, mehr als 30 Minuten ohne Punkt und Komma von ihren diffusen Ganzkörperschmerzen zu sprechen, mit denen sie in den vergangenen Monaten mehr als 20 Ärzte erfolglos aufgesucht habe. Jeder Ansatz einer Frage von mir, um eine vertiefte biographische Anamnese zu erheben, wurde mit einem noch intensiveren Rededrang beiseite gewischt, sodass ich so gut wie überhaupt nicht dazwischenkam. In ohnmächtiger Hilflosigkeit – ihren Redeschwall irgendwie stoppen zu wollen, weil in dieser Klinik von der Leitung eine gründliche biographische Anamnese erwartet wurde – sagte ich schließlich zu ihr: »Sie nerven mich aber!« Zu meiner Überraschung unterbrach die Patientin, eine waschechte Berlinerin, ihren Redefluss und äußerte: »Ich bin doch beim Nervenarzt!«, worauf wir beide schallend lachen mussten.
Heute verstehe ich dies in Kenntnis des Mentalisierungsmodells so, dass mich die Patientin mit ihrer Berliner Schlagfertigkeit in weniger als einer Sekunde auf ihre Weise – wenigstens nach meiner Äußerung – »mentalisiert« hatte, während ich in einen nicht-mentalisierenden Zustand geraten war, den man aus Sicht des Mentalisierungsmodells als Äquivalenz-Modus bezeichnet. Zur weiteren Überraschung konnte das Gespräch nach dieser Interaktion, die auch als ein »Gegenübertragungsagieren« aufgefasst werden kann, etwas dialogischer fortgesetzt werden. Ich konnte endlich meine (!) biographische Anamnese erheben.
Von Karl Valentin (1882–1948), einem berühmten Münchner Komödianten, der wegen seiner anorektischen Erscheinung von jenem Wirt, der ihm in München eine Bühne zur Verfügung gestellt hatte, »Skelettgiggerl« genannt, wurde überliefert, dass er seinen Arztbesuch mit den Worten einleitete:
»Herr Doktor, mein Magen tut weh, die Leber ist geschwollen, die Füße wollen nicht so recht, die Kopfschmerzen hören nicht auf, und wenn ich von mir selbst reden darf: Ich fühle mich auch nicht wohl«.
Ein Hausarzt äußerte:
»Und wenn der Patient dann zum fünften Mal in meine Praxis kommt, bin ich genervt […] es kommt mir vor, als würden die Patienten sich eine schlimme Krankheit wünschen […] das macht mich wütend. Sollen sie doch froh sein, dass sie nichts haben […] oft fehlt mir dann auch irgendwann das Mitgefühl […] das ist sehr anstrengend!«
Viele Patienten äußern enttäuscht: »Mein Arzt findet nichts!« Patienten mit somatoformen Belastungsstörungen werden wegen ihrer organischen Ursachenüberzeugung als »schwierig« erlebt, die trotz oder wegen der Chronifizierung häufig mit unrealistischen Behandlungserwartungen (»Sie sind meine letzte Hoffnung!«) einhergeht (Roenneberg & Henningsen 2016).
Das von Arthur Barsky entwickelte Konzept der somatosensorischen Verstärkung (Barsky 1992) könnte bei Patienten mit einer solchen Dynamik hilfreich sein. Die somatosensorische Verstärkung beschreibt eine charakteristische Art und Weise, wie ein Individuum auf Signale aus dem Inneren und der Oberfläche des Körpers achtet und solche Wahrnehmungen bewertet. Die Rea