Kapitel 1
Paradigmatische Voraussetzungen therapeutischer Systeme
Was bewegt den Menschen zum Handeln? Wie erklären sich die – oft gravierenden – Widersprüche in seinem Verhalten? Und welche Ursachen haben die vielfältigen Formen des Erlebens und Verhaltens, die heute gemeinhin als »psychische Erkrankungen« bezeichnet werden?
Schon seit grauer Vorzeit ist der Umgang mit Krankheit ein zentrales Thema jeglicher menschlichen Kultur. Das Bemühen, Wege zur Heilung und Linderung von Leid zu finden, reicht bis in prähistorische Zeiten zurück.
Die Suche nach Antworten – so lehrt ein Blick in die Geschichte – ist stets von paradigmatischen Vorannahmen über die Grundstruktur der Wirklichkeit selbst geleitet. Diese – so der berühmte WissenschaftshistorikerTHOMAS S. KUHN in seinem Klassiker »Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen« – sind grundlegende Prämissen, die selbstnicht zweifelsfrei beweisbar oder widerlegbar sind. Sie sind – bis zu einem gewissen Grad willkürliche –Setzungen, die sich auf folgende Fragen beziehen:
»Welches sind die Grundbausteine des Universums? Wie wirken sie aufeinander und auf die Sinne ein? Welche Fragen können sinnvoll über diese Bausteine gestellt und welche Methoden bei der Suche nach Lösungen angewandt werden?«12
Und weiter:
»Die [eingenommenen] Positionen … spezifizieren nicht nur, welche Entitäten das Universum bevölkern, sondern auch, welche es nicht enthält.«13
Die Antworten auf diese Fragen fallen – je nach Weltregion und Zeitepoche – verschieden aus. Jede menschliche Kultur besitzt sozial akzeptierte Formen der Wahrnehmung und des Erkenntnisgewinns. Aus ihnen resultieren Vorstellungen über den Aufbau der Welt und die grundlegende Natur des Menschen. Krankheitstheorien – und daraus abgeleitete Heilbehandlungen – sind unauflöslich mit diesen Glaubenssystemen verwoben.
Bis Mitte des 20. Jahrhunderts lassen sich auf die Frage nach der Natur »psychischer Störungen« – grob vereinfacht – vier ernst zu nehmende Antworten ausmachen: die schamanistische, die somatogenetische, die psychodynamische und die lerntheoretische Sichtweise. Sie alle leisten wertvolle Beiträge zur Linderung von Leid.14
Jede dieser Auffassungen beruht auf einer unterschiedlichen Art, die Welt zu erleben; und jede dieser Varianten des Erlebens führt zu anderen Annahmen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit und des Menschen. Es überrascht daher kaum, dass auch die daraus abgeleiteten Folgerungen für die praktische Heilkunst höchst verschieden sind.
Der britische Psychiater und NeurowissenschaftlerIAIN MCGILCHRIST, einer der Universalgelehrten unserer Zeit, formulierte in diesem Zusammenhang eine faszinierende These, die international großes Aufsehen erregte: Demnach nutzen die linke und die rechte Gehirnhälfte grundlegend verschiedene Arten der Informationsverarbeitung und Aufmerksamkeitssteuerung. Weltbilder und Kulturepochen – soMCGILCHRIST – lassen sich danach unterscheiden, ob die Hemisphären ausbalanciert zusammenwirken oder eine Seite funktional dominiert. Dementsprechend verändere sich das subjektive Erleben der Wirklichkeit.15
Die rechte Hemisphäre des Gehirns nimmt die Welt auf ganzheitliche und intuitive Weise wahr. Sie verarbeitet Informationen gleichzeitig und ordnet diese in deren Kontext ein. Anstatt sich auf Details zu konzentrieren, erfasst sie Muster und Zusammenhänge. Daher ist sie in der Lage, »Synchronizitäten« zu erkennen.16 Die rechte Hirnhälfte verarbeitet und differenziert emotionale Zustände und nonverbale soziale Signale wie Gestik, Mimik und Tonfall. Durch ihre Fähigkeit, die Welt mit emotionaler Tönung zu erleben, erlaubt sie ein ganzheitliches Verständnis der Umgebung. Sie ermöglicht Kreativität, Inspiration und überraschende intuitive Einsichten.
Die linke Hemisphäre – auch Sitz des Sprachzentrums – befähigt zu logisch-rationalem Denken. Sie begegnet der Welt analytisch. Im Unterschied zur rechten Hemisphäre zerlegt sie komplexe Aufgaben in einzelne Sc