Einleitung
Die Mitte hält nicht. An diesen Satz von Joan Didion musste ich in meiner Zeit als Amerika-Korrespondentin oft denken. Sie hat ihn von dem Dichter William Butler Yeats entliehen, um das aufbegehrende, radikale Amerika der 1960er-Jahre zu beschreiben, das sich gegen das Establishment wendete, den Krieg in Vietnam, die Polizeibrutalität, den Kapitalismus. Als ich 2014 in Amerika ankam, war das Land erneut in großer Unruhe. Es war jetzt ein Land der Handyvideos, auf denen zu sehen war, wie Schwarze Menschen bei der Verhaftung durch weiße Polizisten starben, in dem junge Schwarze Molotowcocktails auf Polizisten warfen, Nationalgardisten in Panzern durch die Straßen rollten, und Aktivisten begannen, das mit dem Hashtag Black Lives Matter zu beschreiben.
Auf meine Zeit als Korrespondentin habe ich mich sehr gefreut. Ich habe in denUSA studiert und meinen Mann dort kennengelernt. Ich liebe Amerika, ich mag die Zugewandtheit der Menschen und ihre beeindruckende Bereitschaft, sich zu engagieren. Mein Schwiegervater sitzt seit Jahrzehnten unentgeltlich in verschiedenen Ausschüssen seiner Heimatstadt in Connecticut, meine Schwiegermutter unterrichtet seit ihrer Pensionierung als Grundschullehrerin Einwanderer aus der ganzen Welt in Englisch. Vielleicht auch deshalb nahm ich die Unruhe Amerikas zunächst nicht wirklich ernst. Zu den Aufständen in Ferguson, Missouri, im Sommer 2014 fuhr ich erst nach einer Woche. Dass ein Schwarzer Jugendlicher von der Polizei erschossen wurde, daran hatte man sich auf traurige Weise gewöhnt.
Als ich Amerika im Spätsommer 2021 wieder verließ, war es ein Land geworden, in dem ein großer Teil der Menschen nicht mehr an die zentrale Institution der amerikanischen Demokratie glaubte: freie und faire Wahlen. Am 6. Januar 2021 waren sie daher nach Washington, D.C. gefahren, um gegen eine vermeintlich gestohlene Wahl zu demonstrieren. Am Ende durchbrachen sie gewaltsam die Barrieren, die das Kapitol schützten, um die friedliche Übergabe der Macht an den nächsten Präsidenten zu verhindern. Der Wert des Aktienindex S&P 500 war in diesen sieben Jahren unbeirrt von alledem um 157,86 Prozent gestiegen.[1]
Es gibt viele kluge Bücher, die analysieren, wie es zu der Wut und dem Vertrauensverlust gekommen ist. Die Autoren haben die Auswirkungen von Globalisierung und politischen Entscheidungen untersucht, sie haben sich ökonomische Entwicklungen angeschaut, Arbeitslosenzahlen, Migrationsströme, die Qualität der Bildungsabschlüsse, die großen, in Zahlen messbaren Veränderungen. Darin haben sie nach Zusammenhängen gesucht und alles zu einer These verdichtet. Die unsichtbaren, die emotionalen Veränderungen beschreiben sie nicht. Der Stolz auf das eigene Land und die Kränkungen, die es einem zufügt; die Hoffnung auf ein glückliches Leben und den Zweifel, ob man es je erreichen wird; der Glaube, dass Amerika das beste Land der Welt ist und ein beschädigtes Gefühl von Fairness. Jene Gefühle eben, die das Verhältnis eines Menschen zu seinem Land prägen. Darum habe ich mich entschieden zuzuhören. Ich bin zu den Menschen gefahren und habe mir angehört, welche Geschichten sie selbst erzählen. Ich wollte ihre Vergangenheit kennenlernen und ihren Blick auf Amerika, ihre persönliche Erfahrung nachvollziehen, auch um die Fehler zu verstehen, die die Politik gemacht hat. Drei Menschen stachen dabei heraus. Der Kapitolstürmer Stephen, der Black-Lives-Matter-Aktivist Walter und die Latina Magali, drei Menschen, die vom Rand der Gesellschaft in die Mitte wollen, drei Menschen, die auf der Suche nach dem amerikanischen Versprechen sind.
Ich erzähle ihre Geschichten, weil ich glaube, dass man Amerika und drei der großen Debatten, die das Land im Wahljahr 2024 führt, so besser versteht. Da ist die Debatte über Einwanderung, und wie das größte Einwanderungsland der Welt damit in Zukunft umgeht. Da ist die Debatte über die Entfremdung der jungen Schwarzen von der Demokratischen Partei, eine ihrer treuesten Wählergruppen. Und schließlich die Debatte um die Übernahme der Republikanischen Partei durch Donald Trump.
Den Krankenpfleger Stephen führte die Suche nach dem amerikanischen Versprechen am 6. Januar 2021 von Kentucky nach Washington, D.C. Wenigstens einmal in seinem Leben wollte er etwas von Bedeutung machen. In Washington, D.C. ist er der Erste, der die Absperrungen vor dem Kapitol überwand. Dafür wird er Jahre später vor Gericht stehen, anders als der Präsident, für den er das Kapitol gestürmt hat.
Der Aktivist Walter wächst im Schatten des Trump Towers, in der New Yorker Bronx auf. Er träumt von Ruhm und Erfolg und wird das als Black-Lives-Matter-Aktivist erreichen. Da traut er keinem Politiker mehr, schon gar nicht den Demokraten.
Magali ist das Kind einer mexikanischen Arbeiterin ohne Aufenthaltsgenehmigung. Im Sommer 2023 steht Magali vor ihrem neuen Haus, offene Küche, vier Schlafzimmer, Doppelgarage. Sie hat sich ihren amerikanischen Traum erfüllt. In ein