1. Dezember
Ruckartig setzt sich Ingrid Berg im Bett auf. Der gleiche Traum wie immer. Wieder und wieder sucht er sie heim. Das Dröhnen. Der weiße Drache. Die Schreie. Die Dunkelheit. Die Panik. Der Schmerz. Überall Schnee.
Es ist nicht viel, an das sie sich aus den ersten Stunden und Tagen erinnert, aber das grelle Licht, die weiß gekleideten, hektisch umhereilenden Menschen, die Schmerzen und das Blut, all das Blut – das wird sie niemals vergessen.
Sie bringt ihre Atmung wieder unter Kontrolle. Sie ist jetzt nicht dort. Nicht unter dem Schnee, nicht im Krankenhaus. Sie ist in ihrem Bett im Himmelfjell Hotel. Um sie herum ist es dunkel, und sie ist allein.
*
Bereits als kleines Kind hatte Ingrid mit dem Klettern begonnen. Zuerst an den kleinen Felsen in der Nähe des Hotels, in dem sie aufwuchs, dann an Bergwänden. Etwas in ihrem Inneren trieb sie immer weiter, immer steiler und immer höher hinauf. Die Leute hatten sich gewundert, dass ihre Großmutter, die sie Mutter Borghild nannte, das zuließ –erst recht nach dem, was den Eltern geschehen ist! Doch die Großmutter war stets ruhig geblieben.Ingrid ist zum Klettern geboren, hatte sie entgegnet.Ihr das Klettern zu verweigern, wäre, wie dem Raufußbussard das Fliegen zu verbieten.
Die Leute vom Himmelfjell sind immer Kletterer gewesen. Mutter Borghild hatte erzählt, dass sowohl sie selbst als auch Ingrids Mutter Engeline von Kindesbeinen an an den Bergwänden unterwegs waren, obwohl das zu dieser Zeit für Frauen noch ungewöhnlich war. Das Letzte, was Mutter Borghild also wollte, war Ingrid daran zu hindern, sich zu entfalten. Als Zugeständnis an die allgemeine Vernunft hatte sie dennoch dafür gesorgt, dass Ingrid einen Kletterkurs belegte, Sichern und Abseilen lernte und einen Helm benutzte, dass sie Kletterkameraden fand und tat, was nötig war, damit das Klettern so sicher wie möglich wurde. Mutter Borghild vertraute Ingrid. Und so hatte Ingrid sich selbst vertraut, keine Angst gehabt. Sie kannte die Berge, ihre Finger wussten, wohin sie greifen mussten, sie wusste immer, wohin sie den Fuß beim nächsten Schritt zu setzen hatte.
Und nach und nach war das Klettern zu ihrem Leben geworden. Sie war in die Welt aufgebrochen, zu neuen Herausforderungen, und hatte sich immer sicher gefühlt, nahezu unverwundbar.
Aber dann, im vergangenen Jahr, hatte sich dort oben im asiatischen Hochgebirge das Leben innerhalb weniger Minuten verändert. Die Bilder rasten wie eine Schneelawine an ihrem inneren Auge vorbei, wie die Lawine, die sie im Himalaya überrollt hatte. Prebens Versagen, die fatalen Konsequenzen – darüber würde sie niemals hinwegkommen, und jedes Mal, wenn sie daran dachte, war es, als wäre sie erneut unter meterweise Schnee gefangen und mühte sich damit ab, Luft zu bekommen.
Sie ließ warmes Wasser über Kopf und Körper laufen, während sie das Lied mitsang, das im Badezimmerradio lief.Every Day Is Christmas With You. Es war der erste Sonntag im Advent, die Weihnachtslieder wurden jedoch schon seit mehreren Wochen gespielt. Shampoo, Spülung, erneut Shampoo. Was für ein Luxus das